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Exquisiter Stimmungsseismograf

Im Englischen gibt es den Ausdruck "spoiler alert”. Das ist eine Warnung, und sie bedeutet soviel wie: Bitte ausschalten, wer sich die Überraschung nicht verderben lassen will. Wer sich also gewisse Überraschungen in Andrew Sean Greers neuem Roman nicht verderben lassen möchte, sollte sich für die nächsten paar Minuten in einen anderen Raum begeben, das Radio leiser stellen oder den Staubsauger anwerfen.

Von Sacha Verna | 19.01.2010
    Es ist nämlich unmöglich, die "Geschichte einer Ehe” zu besprechen, ohne zu verraten, dass es sich bei den Protagonisten erstens um Schwarze handelt und zweitens der Mann in der betreffenden Ehe homosexuell ist. Dabei spart der Autor diese zentralen Informationen lange sorgfältig aus. Er schickt bloß einige Andeutungen voraus, Restaurants, in denen man die Gäste abweist etwa oder getrennte Schlafzimmer.

    Doch der Reihe nach. Die "Geschichte einer Ehe” spielt 1953 in San Francisco. Die Ich-Erzählerin Pearlie lebt seit sechs Jahren verheiratet mit Holland Cook in einer Neubausiedlung am Stadtrand. Es ist das Jahr, in dem Dwight Eisenhower Präsident der Vereinigten Staaten wird und Richard Nixon sein Vizepräsident, das Jahr in dem Julius und Ethel Rosenberg hingerichtet werden, es ist die Zeit des Korea- und des Kalten Krieges, die Zeit, in der die Bürgerrechtsbewegung noch in den Kinderschuhen steckt. Jedenfalls herrscht keineswegs die Petticoat-Fidelität, die jener Epoche im Rückblick gerne angedichtet wird. Pearlie Cook, der fleißigen Hausfrau und liebevollen Mutter eines kleinen Jungen, gelingt es trotzdem, sich in einer Art Idylle einzurichten. Es ist eine Idylle, die vor allem auf Stille beruht. Der Hund, den Pearlie anschafft, bellt nicht. Das Telefon der Cooks schnurrt nur, die Türglocke summt und der Wecker vibriert. Bevor Holland abends um sechs Uhr von der Arbeit heimkehrt, schneidet Pearlie sämtliche Artikel aus der Zeitung heraus, die ihren Angetrauten aufregen könnten. Das alles, weil sie von Hollands Tanten, den einzigen beiden Verwandten und überhaupt den einzigen Menschen, mit denen die Cooks näheren Kontakt pflegen, vor dem "verdrehten Herzen” ihres Gatten gewarnt worden war. So hatten die alten Damen es genannt. Und Pearlie beharrt darauf, diese Diagnose wörtlich und damit medizinisch zu verstehen, bis eines schönen Sommermorgens ein eleganter blonder Fremder vor ihrer Tür steht. Buzz Drumer, so sein Name, ist gekommen, um Pearlie sein Vermögen im Tausch gegen seine große Liebe Holland Cook anzubieten. Was sich daraufhin entspannt, ist eine Ménage-à-trois auf Bewährung, ein Reigen aus Täuschungen und Enttäuschungen, deren Vor- und Nachteile es sorgfältig gegeneinander abzuwägen gilt.

    Andrew Sean Greer ist einem breiteren Publikum durch seinen letzten Roman "Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli” bekannt geworden. Das ist die Geschichte eines Mannes, der rückwärts altert, und sie umfasst die 70 Jahre zwischen 1871 und 1941. In Greers erstem Roman "Die Nacht des Lichts” versammelt sich eine Gruppe von Astronomen zwischen 1965 und 1990 alle sechs Jahre auf einer Insel im Südpazifik, um einen Kometen zu beobachten und zugleich eines tragischen Unfalls zu gedenken. Verglichen mit diesen beiden fiktiven Langzeitstudien ist die "Geschichte einer Ehe” eine Momentaufnahme. Was geschieht, geschieht in schneller Abfolge. Und doch haftet auch diesem Roman etwas Langes und Studienhaftes an – sehr zu seinem Vorteil. Denn Greer ist ein exquisiter Stimmungsseismograf. Die Cook'sche Stille, die er einfängt, ist die einer verängstigten und verunsicherten Welt.

    Die "Geschichte einer Ehe” ist die einer ganzen Generation, die auf Eiern tanzen lernt. Schlimmer als schwarz zu sein, ist es 1953 in den USA, das Schwarzsein zum Thema zu machen, obwohl es sich längst als Thema aufdrängt. Schlimmer als schwarz und ein Thema zu sein, ist es, homosexuell zu sein. Alles zusammen ist eine Katastrophe.

    Greer verzichtet wohlweislich auf den Gestus des Geschichtssemiotikers. Er erzählt die große Geschichte im Kleinen. Er konzentriert sich auf das private Drama, das der Titel seines Romans verspricht. Nur gelegentlich trägt er einige Schichten Symbolik zu viel auf. Nur gelegentlich verliert sich er in kalenderblättriger Rhetorik. Manchmal versucht Greer Situationen so stark zuzuspitzen, dass sie stumpf sind, wenn sie endlich eintreffen. In solchen Augenblicken wirkt seine Hauptfigur unglaubwürdig. Und mit Pearlie Cook steht und fällt diese "Geschichte einer Ehe”. Wo er funktionert, verleiht dieser Roman jemandem eine Stimme, der jetzt all das sagt, was einst ungesagt blieb – vermeintlich verdrehter Herzen, gesellschaftlicher Regeln oder eigener Empfindlichkeiten wegen.

    Andrew Sean Greer: "Geschichte einer Ehe". Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2009. 256 Seiten. 34,90 Franken/19,95 Euro.

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