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F.B.Habel: Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme

Die Deutsche Film AG, kurz DEFA, wurde 1946 als deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft in der sowjetischen Besatzungszone gegründet. Knapp fünf Jahrzehnte begleitete sie die Geschichte der DDR. DEFA-Filme waren Programm und Propaganda, standen oft für Qualität und manchmal für Qual. Filme wie „Die Legende von Paul und Paula“ zogen das Publikum an, der Parteispitze unbequeme Filme wie „Spur der Steine“ fielen der Zensur zum Opfer. Erst nach 23 Verbotsjahren kam dieser Film in die Kinos der DDR und wurde zum letzten großen Publikumserfolg der DEFA. Der Filmpublizist F.B. Habel verzeichnet in „Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme“ alle zwischen 1946 und 1993 dort entstandenen Spielfilme und ergänzt dies durch aufschlussreiches Hintergrundmaterial. Hören Sie die Rezension von Irene Schoor.

Irene Schoor | 17.12.2001
    Die Deutsche Film AG, kurz DEFA, wurde 1946 als deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft in der sowjetischen Besatzungszone gegründet. Knapp fünf Jahrzehnte begleitete sie die Geschichte der DDR. DEFA-Filme waren Programm und Propaganda, standen oft für Qualität und manchmal für Qual. Filme wie "Die Legende von Paul und Paula" zogen das Publikum an, der Parteispitze unbequeme Filme wie "Spur der Steine" fielen der Zensur zum Opfer. Erst nach 23 Verbotsjahren kam dieser Film in die Kinos der DDR und wurde zum letzten großen Publikumserfolg der DEFA. Der Filmpublizist F.B. Habel verzeichnet in "Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme" alle zwischen 1946 und 1993 dort entstandenen Spielfilme und ergänzt dies durch aufschlussreiches Hintergrundmaterial. Hören Sie die Rezension von Irene Schoor.

    "Ein Paradebeispiel ostzonaler Filmpolitik: Man lässt einen politischen Kindskopf wie den verwirrten Staudte einen scheinbar unpolitischen Film drehen, der aber geeignet ist, in der westlichen Welt Stimmung gegen Deutschland und damit gegen die Aufrüstung in der Bundesrepublik zu machen. Der Film lässt vollständig außer acht, dass es in der ganzen preußischen Geschichte keinen Untertan gegeben hat, der so unfrei gewesen wäre, wie die volkseigenen Menschen unter Stalins Gesinnungspolizei es samt und sonders sind."

    Diese Kritik zu Wolfgang Staudtes, in der DDR entstandenen meisterhaften Heinrich-Mann-Verfilmung "Der Untertan", findet sich keineswegs in einem Boulevardblatt, sondern war 1951 im westdeutschen "Spiegel" zu lesen. F.-B. Habel greift in seiner lexikalischen Zusammenstellung der DEFA-Spielfilme immer wieder auf zeitgenössische Kritiken aus west- und ostdeutschen Zeitungen zurück, zeigt Gleichklang und auch Kontrast der Rezensionen und liefert so eine anregende Lektüre, die über die reinen Filminhalte hinausgeht.

    In der Zusammenstellung von Filmkritiken aus Ost und West, ergänzt durch eigene kurze Kommentare und Kuriosa rund um den Film, erweist sich Habel als Sachkenner und gibt ganz nebenbei Einblicke in den Kulturbetrieb der DDR und die Bedeutung der DEFA Filme im film- und zeithistorischen Kontext. Vor allem das ausgewählte Material zu Filmen, die unterschiedliche Reaktionen bei Presse, Publikum und Staatsapparat hervorriefen, machen das Lexikon zum interessanten Nachschlagewerk nicht nur für Filmkenner . Zum Beispiel "Berlin - Ecke Schönhauser...", einer der wichtigsten Filme der 50er-Jahre:

    Wolfgang Kohlhaase und Gerhard Klein spürten in diesem "Halbstarken-Film" das Lebensgefühl Ostberliner Jugendlicher im Hexenkessel der geteilten Stadt auf. Indem sie nach den sozialen Ursachen für deren Sehnsüchte und Träume fragten, hielten sie der jungen DDR den Spiegel vor. In der Filmkritik von Karl-Eduard von Schnitzler, dem späteren Chefagitator des "Schwarzen Kanals", heißt es dazu 1957:

    "Noch nie war - ohne Übertreibung - in einem unserer DEFA-Filme dieser moderne Dialog zu hören... Der Film Berlin - Ecke Schönhauser" ist beispielhaft und könnte ein Markstein im mordernen Filmschaffen sein. Das Kollektiv Kohlhaase/Klein sollte erhalten bleiben. Es erscheint dem Kritiker mit dieser neuen Leistung nationalpreiswürdig."

    Im eigenen Kommentar zum Film ergänzt Habel:

    "Realistisch und genau erzählen Klein und Kohlhaase ihre Geschichte unter dem Eindruck des italienischen Neorealismus. Ihr dritter gemeinsamer Berlin-Film findet begeisterte Befürworter und harsche Kritiker. Die 2. Filmkonferenz der SED geht 1958 mit diesem Film hart ins Gericht. Das Leben unter Ostberliner Jugendlichen sei viel zu negativ dargestellt. Heute ist der Film einer der großen Klassiker der DEFA."

    Der vierte Berlin-Film von Kohlhaase und Klein, "Berlin um die Ecke", fiel dem berüchtigten 11. Plenum vom Dezember 1965 zum Opfer und wurde verboten. Das Lexikon dokumentiert diesen wie auch spätere Fälle politischer Zensur. Zu Heiner Carows Film "Die Russen kommen", ein provokantes Porträt eines jugendlichen Mitläufers während des Faschismus, das unmittelbar nach der Fertigstellung 1968 verboten und erst 1987 aufgeführt wurde, findet sich in Habels Lexikon der Kommentar eines der profiliertesten Filmemacher der DDR, Konrad Wolf, aus dem Jahre 1980:

    "Das Thema lag damals in der Luft... Darin bestand die Chance. Aber das ist die Problematik unserer Entwicklung: Wir gehen einen Schritt, dann noch einen halben, und dann bleiben wir stehen."

    Welche künstlerischen und politischen Chancen der Staatsapparat mit seinen Zensurmaßnahmen vertan, welche gesellschaftlichen Diskussionen verhindert und künstlerische Entwicklungen gestoppt wurden, das lässt sich an den "Verbotsfilmen" ablesen. Nach fast 50-jähriger Filmproduktion wurde die DEFA 1993 aus dem Register gelöscht. Es ist das Verdienst Habels, einst Mitarbeiter des Fernsehens der DDR und des Staatlichen Filmarchivs, das reichhaltige Erbe nun in einem Lexikon erfasst zu haben. Jedem Film widmet er eine Inhaltsbeschreibung mit ausführlichen Stab- und Besetzungsangaben sowie Produktions- und Aufführungsdaten. Zeitpolitische und filmhistorische Einordnungen sowie etwa 500 Abbildungen ergänzen den Band. Auch wenn der überwiegende Teil der Filmografien und Inhaltsangaben bereits in der sorgfältig aufbereiteten Publikation "Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg", herausgegeben vom Filmmuseum Potsdam, erschienen ist, hat das Lexikon, das über das gezielte Nachschlagen hinaus neugierig macht, anregt und zum Lesen einlädt, seinen eigenen Wert. Im "Großen Lexikon der DEFA-Spielfilme" lohnt es sich jedenfalls nicht nur zu blättern.