Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Fachkongress "Armut und Gesundheit"
Gesundheitsrisiko Armut

Der Kongress "Armut und Gesundheit" hat sich zur größten Public-Health-Veranstaltung in Deutschland entwickelt. In diesem Jahr diskutierten mehr als 2.000 Teilnehmer an der TU Berlin darüber, wie Gesundheit solidarisch gestaltet werden kann. Denn: die gesundheitliche Ungleichheit wird durch soziale Faktoren wie Einkommen, Bildung und Beruf beeinflusst.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger, | 23.03.2017
    Ärzte bei einer Herzoperation im Operationssaal.
    Das Gesundheitssystem in Deutschland wirft immer wieder auch die Frage nach gesundheitlicher Ungleichheit auf (imago)
    Das Motto "Gesundheit solidarisch gestalten" scheint auf ihn zugeschnitten: Dr. Uwe Denker hat im Jahr 2010 die Praxis ohne Grenzen in Bad Segeberg gegründet. Der pensionierte Allgemeinmediziner und Kinderarzt hielt eine kostenlose ärztliche Versorgung für Bedürftige für überfällig.
    "Von denen ich zunächst nicht wusste, wer dann kommen würde zu uns. Und gekommen ist nachher im Endeffekt der deutsche Mittelstand. Alles Leute und Patienten aus der Mittelschicht, die zu uns gekommen sind, die keine ausreichende oder keine Krankenversicherung hatten. Und denen geholfen werden musste. Und das tun wir unbürokratisch ganz schnell und dann organisieren wir für die Behandlung, wenn wir sie nicht selber machen können. Es kommt zum Beispiel der Schlachtermeister, es kommt der Tischlermeister, es kommt die Ärztin, es kommt der Versicherungsvertreter - und nicht Flüchtlinge, nicht Migranten, nicht Asylanten, von denen wir es eigentlich erwartet hatten."
    Seit 2009 besteht in Deutschland Versicherungspflicht. Manche Menschen können jedoch ihre Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlen, erzählt Uwe Denker.
    "Und gerade Solo-Selbständige können häufig die hohen Beiträge nicht bezahlen, die ungefähr 600 Euro im Monat betragen, weil die Geschäfte dann schlecht gingen. Und dann lassen sie es einfach bleiben mit der Bezahlung. Dann kann die Krankenkasse sie nicht raus werfen, aber sagt: Diese nicht gezahlten Beiträge sind Schulden für die. Wir tun die auf ein Schuldenkonto und verzinsen dieses Schuldenkonto mit fünf Prozent im Monat. (…) Die Leute kommen in eine Schuldenfalle, aus der sie so schnell nicht wieder rauskommen."
    Wie Armut und Gesundheit sich wechselseitig beeinflussen, war eine der Hauptfragen, die mehr als 2.000 Teilnehmer auf dem Public-Health-Kongress in Berlin diskutierten. Die Theorie und Praxis der sogenannten öffentlichen Gesundheit ist – nach einer langen Pause infolge ihres Missbrauchs in der NS-Zeit - seit den 1990er-Jahren in Deutschland wieder in. Heute stehen so unterschiedliche Fragestellungen wie Bildung oder Umweltverschmutzung und Klimawandel im Vordergrund, erzählt Ansgar Gerhardus, Professor am Institut für Public Health an der Universität Bremen:
    "Public Health ist so alt wie die Menschheit praktisch. Aber während man sich früher eher mit Fragen wie Infektionskrankheiten beschäftigt hat: Wie kann man sich davor schützen? Malaria zum Beispiel oder Tuberkulose. Alles Krankheiten, die wir heute auch noch haben, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Aber inzwischen stehen andere Fragen im Vordergrund. Zum Beispiel die Gesundheit in der Arbeitswelt: Was kann man dafür tun, um die Leute gesund zu erhalten? Eben der Zusammenhang der sozialen Lage und Gesundheit oder aber auch die Organisation des Gesundheitswesens: Wie kann man es möglichst effizient und möglichst gerecht organisieren."
    Wie können Gesellschaften bei ihren Mitgliedern Wohlbefinden produzieren?
    Es geht mit den Worten des bekannten britischen Gesundheitswissenschaftlers Richard Wilkinson darum, wie eine Gesellschaft bei ihren Mitgliedern Wohlbefinden produzieren kann. Der Trend der vergangenen Jahre kehrt sich um: Nicht mehr das Individuum allein ist für seine seelische und körperliche Gesundheit verantwortlich. Immer mehr geraten die vielen Facetten sozialer Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen, Männern und Frauen sowie alten Menschen, bei Alleinerziehenden, Arbeitslosen, Suchtkranken und Migranten in den Blick.
    Das Armutsrisiko in Deutschland steigt seit einigen Jahren wieder, beobachten die Experten. Als arm bezeichnen sie jene Haushalte, die unterhalb von 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens liegen.
    Die regionalen Unterschiede sind groß: Am größten ist es in nordöstlichen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, am geringsten in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen im Südwesten.
    Immer häufiger sind junge Erwachsene – teilweise auch ältere Menschen – von Armut betroffen, stellt Dr. Jan Goebel vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung fest. Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt spiegele sich im Armutsrisiko nicht wider:
    "Denn eigentlich würde man ja erwarten, das müsste sinken. Wenn man sich die verfügbaren Einkommen der Haushalte über die Zeit anschaut, dann sieht man relativ deutlich, dass die (…) obersten zehn Prozent, die reichsten zehn Prozent von dieser positiven Entwicklung sehr viel stärker profitiert haben als die untersten zehn Prozent der Einkommensverteilung. Sie haben sogar in den letzten Jahren Verluste von knapp zehn Prozent hinnehmen müssen. Das lässt sich am ehesten dadurch erklären, dass wir eine Ausweitung des Niedriglohnsektors haben, das ist vor der Einführung des Mindestlohn."
    Kam es in den letzten zwölf Monaten schon mal vor, dass Sie eine Mahlzeit auslassen mussten, weil Sie nicht genug Geld hatten? Von den mehr als 1.000 "Tafel"-Kunden, die Julia Depa befragt hat, bejahten rund 30 Prozent diese Frage.
    Einflussgrößen gesundheitlicher Ungleichheit
    Die Ernährungswissenschaftlerin von der Universität Hohenheim hat in den Tafel-Läden in Berlin, Karlsruhe und Stuttgart, die Lebensmittel und andere Waren für einen symbolischen Betrag abgeben, herausgefunden, dass 70 Prozent der Kunden ernährungsarm sind. Dass fast jeder Zehnte von ihnen die Erfahrung kennt, aus Geldmangel einen ganzen Tag lang nichts zu essen, bezeichnet sie als schockierend.
    "Manche sind durch Krankheit in diese Situation gekommen, das sind sozusagen die neuen Armen. Wir hatten auch Personen, da waren vielleicht die Eltern schon arm, oder sie haben einen Job verloren, soziale Schicksalsschläge. Dann unter den Migranten, dass da welche dabei waren, denen der Schulabschluss nicht anerkannt wurde und sie in ihren Beruf nicht einsteigen konnten. Und wir hatten auch viele Rentner – (ich meine) 20 Prozent waren es. Weil die Rente nicht ausreicht. Auch Familien mit Kindern waren da. Es war eine bunt gemischte Gruppe. Ich habe da gelernt: Es kann schnell passieren, dass man in so eine Situation kommt."
    Seit einer Reihe von Jahren beschäftigt sich auch das Robert-Koch-Institut mit der Frage, wie die Gesundheit – oder genauer: die gesundheitliche Ungleichheit - durch soziale Faktoren wie Einkommen, Bildung und Beruf beeinflusst wird.
    Armut beispielsweise wirkt sich direkt auf das Risiko, zu erkranken und vorzeitig zu sterben, aus, betont der promovierte Sozialwissenschaftler Thomas Lampert. Dass Menschen mit niedrigem Einkommen fünf bis zehn Jahre kürzer leben, bezeichnet der Leiter des neuen Fachgebiets 'Soziale Determinanten der Gesundheit, als extreme Form sozialer Ungleichheit.
    "Was eine ganz große Rolle spielt, ist natürlich der materielle Lebensstandard, die materielle Absicherung auch im Alter. Ist auch die Frage, wie wir wohnen, das Wohnumfeld, wenn Sie beispielsweise an Umweltbelastungen denken, oder auch an Feinstaubbelastung. Die ist deutlich höher in sozial benachteiligten Stadtgebieten. Die Veränderungen der Arbeitswelt spielen eine große Rolle. Sowohl körperliche als auch psychosoziale Belastungen sind in status-niedrigen Gruppen deutlich höher. Wir sehen auch ganz aktuelle Veränderungen wie beispielsweise die Zunahme von prekärer Beschäftigung, atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Das betrifft insbesondere Personen, die schlecht qualifiziert sind, und das geht natürlich auch mit höheren Belastungen einher, verbunden auch mit Zukunftssorgen."
    Gesundheitliche Ungleichheit ist seit 20 Jahren bekannt, betont Thomas Lampert. Mit dem neuen Präventionsgesetz von 2015 sollen sozial Benachteiligte in den sogenannten Lebenswelten Kindergarten und Schule, Nachbarschaften und Betriebe besser erreicht werden.
    Bei der 'Praxis ohne Grenzen' in Bad Segeberg, der mittlerweile elf weitere Praxen gefolgt sind, funktioniert das über Mund-zu-Mund-Propaganda. Der Bedarf an kostenloser medizinischer Behandlung ist so groß, weil die Krankenkassen ihren verschuldeten Patienten nur noch eine Notfallversorgung bieten, betont Uwe Denker. Was sich erheblich auf die Gesundheit auswirkt:
    "Und zwar dadurch, dass die Behandlungen verzögert werden. Die Patienten kommen viel zu spät zu uns. Aus Scham, sich dann zu outen, kommen die dann zu uns und sagen: Jetzt kann ich es nicht mehr alleine. Jetzt ist das Darmbluten, was ich habe, schon ein halbes Jahr alt. Es muss schleunigst, morgen, eine Retroskopie kommen, und die Retroskopie hat gerade beim Journalisten ergeben: Darmkrebs."