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Fachkräftemangel in MINT-Berufen
"Der Osten droht dauerhaft abgehängt zu werden"

In Deutschland fehlen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Technik und Naturwissenschaft so viele Arbeitskräfte wie nie zuvor. Besonders der Osten sei betroffen, sagte Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft im DLF. Dort gebe es weniger Zuwanderung. Die helfe aber "sehr stark, die Fachkräftesicherung und die Innovationskraft zu erhalten".

Axel Plünnecke im Gespräch mit Jörg Biesler | 30.11.2016
    Ein Flüchtling aus Eritrea sitzt an seiner Werkbank und misst sein Werkstück nach.
    Besonders in technischen Berufen fehlt es an Nachwuchs. (picture alliance / dpa / Andreas Arnold)
    Jörg Biesler: Die MINT-Lücke klafft seit Jahren schon in der Statistik - das ist die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot bei Arbeitskräften im Bereich Mathematik, Informatik, Technik und Naturwissenschaft. Derzeit ist sie so groß wie nie, sagt der MINT-Herbstreport des Instituts der deutschen Wirtschaft. Professor Dr. Axel Plünnecke ist einer der Autoren, guten Tag, Herr Plünnecke!
    Axel Plünnecke: Guten Tag!
    Biesler: Wie groß ist sie denn?
    Plünnecke: Wir haben im Moment eine MINT-Lücke von 212.000 Personen, das ist der Höchstwert, seitdem wir das aufzeichnen, seit Anfang 2011.
    "Zuwanderung hilft uns sehr stark, die Innovationskraft zu erhalten"
    Biesler: Wie ermitteln Sie das denn eigentlich? Zählen Sie die offenen Stellen und die arbeitslos Gemeldeten?
    Plünnecke: Genau. Wir haben die offenen Stellen und wissen, dass ein Teil der offenen Stellen über die Bundesagentur für Arbeit gemeldet wird, rechnen das dann hoch und ziehen davon die Arbeitslosen in MINT-Berufen ab und kommen so auf die MINT-Lücke - die noch deutlich größer wäre, wenn wir nicht die starke Zuwanderung in den letzten Jahren gehabt hätten.
    Biesler: Ja, man sieht ja bei Ihnen in der Statistik, dass insgesamt die Zahl der Beschäftigten im MINT-Bereich deutlich gestiegen ist. Dass zum Beispiel Zuwanderung stattgefunden hat, ist einer der Gründe dafür, dass das überhaupt möglich war.
    Plünnecke: Genau. Wir haben insgesamt in Deutschland unter den Erwerbstätigen alleine knapp 435.000 MINT-Akademiker, die zugewandert sind und in Deutschland erwerbstätig sind, dazu kommen noch mal knapp 1,2 Millionen beruflich qualifizierte zugewanderte MINT-Kräfte, und das hilft uns schon sehr stark, die Fachkräftesicherung, die Innovationskraft zu erhalten.
    Im Osten "stärker für Zuwanderung und Integration werben"
    Biesler: Die Zahl der Bewerber im MINT-Bereich, die ließe sich ja vielleicht auch deutlich erhöhen, wenn es nicht so viele Studienabbrecher gebe, gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern, und es gibt auch viele Absolventen, die dann doch was ganz anderes machen. Sind MINT-Berufe nicht attraktiv genug?
    Plünnecke: Doch, insgesamt sind sie sehr attraktiv, wenn Sie auf die Einkommen schauen. Die MINT-Berufe sind zusammen mit den Juristen und den Medizinern die topbezahlten Berufe unter den Akademikern. Ich denke vor allen Dingen, wir haben Abbrüche, weil doch Mathematikkenntnisse den ein oder anderen überfordern im Studium und da mehr Unterstützung notwendig wäre, damit diese Klippen gerade in den technischen Fächern dann auch übersprungen werden können.
    Biesler: Besonders groß ist die Lücke ja nach Ihren Berechnungen im Osten Deutschlands.
    Plünnecke: Ja, vor allen Dingen perspektivisch. Dort scheiden in den nächsten Jahren viele Fachkräfte altersbedingt aus, und gleichzeitig kann der Osten nicht so stark von der Zuwanderung profitieren. Zuwanderer gehen vor allen Dingen dahin, wo sie Netzwerke haben, und der Osten droht wegen fehlender Fachkräfte bei Innovation und Wachstum dann dauerhaft abgehängt zu werden. Da muss man gegenarbeiten und noch stärker für Zuwanderung und Integration in diesen Regionen werben.
    Biesler: Offensichtlich hat das aber auch was damit zu tun, dass die Quote der ausländischen Arbeitnehmer oder der zugewanderten Arbeitnehmer im Osten in dem Bereich deutlich kleiner ist als in westlichen Bundesländern.
    Plünnecke: Genau. Wir haben in Ostdeutschland nur rund zwei Prozent der Beschäftigten im MINT-Bereich, die Ausländer sind, im Westen sind das im Durchschnitt neun Prozent, in den wirklichen Wirtschaftszentren rund um München, in Baden-Württemberg, im Rhein-Main-Gebiet elf Prozent und mehr.
    Biesler: Ist vielleicht auch ein Imageproblem.
    Plünnecke: Auch ein Imageproblem, auch ein Problem, dass in der Vergangenheit wenig Zuwanderung stattgefunden hat in dieser Region. Und da ist es umso schwerer, aufgrund der fehlenden Netzwerke neue Zuwanderer in die Regionen zu holen.
    "Es ist deshalb wichtig, damit die Wirtschaft weiter brummen kann"
    Biesler: Statistik ist ja die eine Seite, das lernen wir auch gerade wieder bei den ganzen Bildungsstudien, die in diesen Tagen veröffentlicht werden, das andere ist, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Wirtschaft in Deutschland, die brummt ja trotz MINT-Lücke, Lücken gibt es auch an vielen anderen Stellen. Ist das vielleicht gar nicht so schlimm mit der MINT-Lücke?
    Plünnecke: Ja, generell haben wir eine Fachkräftelücke im Bereich Pflege, im Bereich Gesundheit, in technischen Fächern, bei den Lehrern, und das ist schon zentral, da gegenzusteuern. Da sind die Flüchtlinge, wo wir versuchen müssen, mit allen Anstrengungen die in den Arbeitsmarkt zu führen. Das sind die gering Qualifizierten, wo wir drangehen müssen und diese Potenziale noch zu heben, damit wir dann insgesamt die Lücken reduzieren können.
    Biesler: Aber ich habe gerade gesagt, die Wirtschaft brummt trotzdem, also ein ganz dringendes Problem scheint es nicht zu sein.
    Plünnecke: Ja, es ist deshalb wichtig, damit die Wirtschaft weiter brummen kann. Wir haben die Digitalisierung als großen Trend vor uns, wir wissen aus den Unternehmensbefragungen, dass die Unternehmen dort mehr technisches IT-Wissen brauchen, Kommunikation. Die Fachkräfte werden benötigt für die Energiewende, für viele Themen, die wir haben, bis schon, was wir wissen, dass wir Probleme kriegen, Autobahnen zu bauen, weil die Planungsingenieure knapp sind in der öffentlichen Hand. Und da müssen wir einfach ran, um weiterwachsen zu können, um so Wohlstand zu sichern.
    "Wir machen uns stärker Sorgen um die berufliche Bildung"
    Biesler: Ich frage das auch, weil es ja auch schon seit Jahren erhebliche Kritik an der MINT-Lücke gibt. Also vielleicht nicht an der MINT-Lücke, sondern besser gesagt, es wird gefragt, ob die wirklich so groß ist, weil das MINT-Berufsfeld ja eines ist, in dem die Arbeitnehmer zum Beispiel häufiger den Job wechseln. Und dann immer Stellen unbesetzt sind, weil jemand ein Unternehmen verlässt und auf eine freie Stelle wechselt in einem anderen Unternehmen und dass dann eine Kettenreaktion mit vielen freien Stellen, aber eigentlich ohne tatsächlichen Mangel. Wie sicher sind Sie, dass Sie tatsächlich das attestieren können, also dass das eine relevante Zahl ergibt?
    Plünnecke: Ja, wir messen zu einem Zeitpunkt, und wenn Sie zehn Personen haben und elf Stellen, dann haben Sie eine offene Stelle, die Sie nicht besetzen können. Und wenn dann ein Mitarbeiter wechselt, entsteht dort eine offene Stelle. Also wir messen da zu einem Zeitpunkt die Differenz von offenen Stellen zu Arbeitslosen und kommen auch mit anderen Einrichtungen wie die Bundesagentur für Arbeit zu ähnlichen Erkenntnissen, dass qualitativ im Bereich Technik, im Bereich Pflege/Gesundheit die Engpässe am größten sind. Was wir sehen, in der Tat, ist, dass im akademischen Bereich die Lage beherrschbar ist, hier haben wir mehr Hochschulabsolventen. Wir machen uns stärker Sorgen um die berufliche Bildung, wo es schwierig wird, einen hohen Anteil Älterer, die in den Ruhestand gehen, zu ersetzen durch wenig junge Leute, die nachrücken, und von denen ein kleiner Teil sich nur für diese technischen Berufe begeistern lässt.
    "Die Bildungsarmut an den Schulen reduzieren"
    Biesler: Was etwas damit zu tun hat, mutmaße ich jetzt mal, dass viele, die sich für einen solchen Bereich begeistern lassen, jetzt angesteckt worden sind davon, dass man möglichst die Hochschule besuchen soll und nicht unbedingt in eine andere fachliche Ausbildung gehen.
    Plünnecke: Sicherlich haben wir einen Bildungsaufstieg - viele, die früher in die Ausbildung gegangen sind, gehen an die Hochschule und studieren Informatik, Ingenieurwissenschaften. Wir sehen aber auch, dass wir einfach eine Gruppe haben, auch aus den Schulen, wo wir Schwierigkeiten haben, dass die die Ausbildungsreife für technische Berufe haben. Da müssen wir noch besser werden, die Bildungsarmut an den Schulen zu reduzieren - und dass es einfach schwer ist, diese Ausbildungsplätze auch zu besetzen, die wir da haben. Da sind zehn Prozent etwa unbesetzt, und da gilt es, noch stärker für diese Berufe auch zu werben.
    Biesler: Der MINT-Herbstreport des Instituts der deutschen Wirtschaft, Professor Dr. Axel Plünnecke ist einer der Autoren. Vielen Dank!
    Plünnecke: Herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.