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Fäkal, nicht sexuell

Der Freiburger Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger analysiert, wie wir uns ausdrücken, wenn uns die Wut packt und wir uns sprachlich unter Normalnull begeben. Wenn wir schimpfen, fluchen, beleidigen. Lesen Sie weiter - aber bitte nicht, wenn Sie prüde sind.

Von Martin Ebel | 08.01.2013
    Geschimpft, geflucht und einander beleidigt haben die Menschen, seit sie über Sprache verfügen. Und wenn schon nicht überliefert ist, mit welchem Fluch Adam auf seine Vertreibung aus dem Paradies reagierte - so wenigstens einer aus dem alten Ägypten. Er lautet: "Ein Esel soll dich vögeln!"

    Sie merken, liebe Hörer: Manches, was folgt, kann empfindsamen Gemütern nicht gefallen, erst recht, wenn sie sprachlich besonders sensibel reagieren. Geht es im Buch des Freiburger Sprachwissenschaftlers Hans-Martin Gauger doch darum, wie wir uns ausdrücken, wenn uns gerade nicht fein und kultiviert zumute ist. Wenn uns die Wut packt und wir uns sprachlich unter Normalnull begeben. Wenn wir schimpfen, fluchen, beleidigen. Dass wir es tun, ist unvermeidlich. Wie wir es tun, ist Ergebnis kultureller Prägung. Auch das vulgäre Vokabular gehört zu unserem kulturellen Rucksack.

    In diesen Rucksack hat Gauger die Nase gesteckt, ohne Furcht vor den Gerüchen, die daraus aufsteigen. Er hat den deutschen mit dem anderer Sprachen verglichen und über seine Funde und Befunde ein originelles Buch geschrieben, das fachlich fundiert ist, aber ohne Fachchinesisch auskommt. Es ist informativ, anregend, sogar angenehm zu lesen - nur prüde darf man nicht sein.

    Prüde ist auch Gauger nicht, aber ein älterer Herr des Jahrgangs 1935 und von ausgesprochen bürgerlichem Habitus. Es ist hübsch zu verfolgen, wie er sich auch in der sprachlichen Kloake mit einiger Eleganz bewegt. Schließlich darf ihm als Wissenschaftler nichts Menschliches fremd sein, nicht mal seine Exkremente. An einer Stelle gibt er allerdings zu: "Mir selbst ist, was jetzt folgt, unangenehm" - denn das, was folgt, sind 15 Seiten über "Scheiße" und zusammengesetzte, abgeleitete und verwandte Begriffe, vom "Anschiss" bis zum "Schleimscheißer". Und damit ist er schon beim Punkt und seiner Hauptthese, nämlich dem auffälligen "Sonderweg" der deutschen Sprache. Wenn er beleidigen, schimpfen oder fluchen will, wird der Deutsche (aber auch der Schweizer und der Österreicher!) fäkal ausfällig, seine Nachbarn hingegen sexuell.

    Das ist keine neue Erkenntnis und manchem Leser mit Sprachkenntnissen und Sprachbewusstsein gewiss schon aufgefallen. Wer öfter englische Filme im Original und synchronisiert sieht, weiss, dass das inflationäre "fuck" / "fucking" / "fucker" eben nicht zum deutschen "Ficken" und entsprechenden Zusammensetzungen werden darf, sondern anatomisch gewissermaßen nach hinten rutscht: In der deutschen Version heißt es dann "Scheisse", "Scheißkerl" oder "Arschloch", das "Fuck off!" wird zum "Verpiss dich". Gauger untersucht dies alles systematisch. Und man muss sagen: Wo immer er, mit Verlaub, in die Kloschüssel greift, gibt es etwas sprachlich Interessantes zu holen.

    Insgesamt 15 Sprachen betrachtet der Autor, teils aus eigener Kompetenz, teils über Gewährsleute, und überall dasselbe Bild: Im vulgären Register wählen Männer (sie sind es, die dort den Ton angeben) sexuelle Bilder und Vergleiche - nur im Deutschen eben nicht. Wohl kennt auch der Franzose, Italiener, Spanier das Fäkalvokabular und bedient sich seiner (im Französischen etwa mit "Merde", "Tu es emmerdant" oder "Ça me fait chier"). Aber für sie ist es nur eine seltener genutzte Alternative zum dominanten Sexualwortschatz. Man kann sich übrigens fragen, warum eine so schöne Sache wie die Sexualität gerade zum Schimpfen und Fluchen benutzt wird. Die Antwort wäre wohl ein weiteres Buch.

    Dieses erfreut den Leser mit einer Fülle von Beispielen, die den enormen Erfindungsreichtum unserer Sprachen dokumentieren und den einen oder anderen dazu motivieren könnten, sein monotones Fluchrepertoire zu erweitern. So sind im Niederländischen "kut" (für das weibliche Geschlechtsorgan) und "kloten" (die Hoden) als abwertende Vorsilben geläufig (und gendermässig gleich gebräuchlich). Dann schimpft der Holländer über ein "kutboek" oder auf die "klotenpolitiek". Außerdem fühlt er sich "kloterig", also wörtlich übersetzt: "hodig", wenns dem Deutschen - na wie? - genau: "beschissen" geht. Übrigens: Wenn der Deutsche im Restaurant "beschissen" wird, sagt der Franzose, wieder sexuell: "On nous a baisé".

    Am schlimmsten fluchen offenbar die Russen. Deren sexualisiertes Schimpfen hat es zu einer eigenen "Sondersprache" gebracht, dem "Mat". In emotionalen Situationen wird die Alltagssprache übersät damit. Gauger zitiert einen russischen Text mit allen einschlägigen Interjektionen. Wörtlich ins Deutsche übertragen, klingt das so:

    "Ich fuhr (Hure!) nach Fahrkarten. (nen Penis kriegte ich!) Mittagspause! Komme ich (Hure!) nach der Pause (ist das ein Penis!), steht da schon eine Schlange (gefickt sei ihre Mutter!). Mehr als eine Stunde musste man anstehen (ins Maul gefickt!). Da (Hure) kommt ein Schieber (gefickte Hündin!) mit zwei Fahrscheinen nach Petersburg. Verlangt dreifachen Zuschlag (so 'n Hurensohn!). Nun habe ich (solch ein Fotzenstück!) zugeschnappt, sonst wäre ich hier (für gefickte Ewigkeit!) stecken geblieben."

    Starker Tobak und noch mal eine Entschuldigung bei den Hörern wert. Das Zitat zeigt nebenbei, dass das sexuelle Vokabular im Deutschen immer noch schockierend wirkt, jedenfalls drastischer als unsere Vorliebe für das Fäkale, das wiederum in anderen Ländern Befremden auslösen kann. Im genannten Beispiel würde ein deutscher Übersetzer jedenfalls meist auf "Scheiße" oder "Arsch" zurückgreifen, um es kulturell anzupassen.

    Sprache ist immer in Bewegung, auch in ihren Niederungen. So ist unter deutschsprachigen Jugendlichen das Sexuelle auf dem Vormarsch - "Die haben uns gefickt" sagt der Jugendfußballer nach einer schweren Niederlage. Auch "Fick dich ins Knie!" ist zweifellos englisch-amerikanischer Einfluss. Dass man in Berlin schon mal hören kann "Ich ficke deine Schwiegermutter", kommt dagegen wohl aus dem türkischen Milieu.

    Familienflüche, die die sexuelle Ehre weiblicher Mitglieder infrage stellen, sind in Südeuropa und im arabischen Raum weit verbreitet; wir kennen das nicht. Deshalb wurde auch die berühmteste Beleidigungsszene der jüngeren Geschichte von manchem Sportreporter missverstanden. Im WM-Endspiel 2006 hatte der italienische Fußballer Materazzi, bevor er von Zidane per Kopfstoß zu Boden geschickt wurde, gesagt, als der Franzose ihm höhnisch sein Trikot anbot: "Preferisco la puttana di tua sorella". Das war eine doppelte Beleidigung - über die Schwester sexuell zu verfügen und sie als Hure zu bezeichnen. Erklären kann Gauger den "deutschen Sonderweg" durch die sprachlichen Niederungen übrigens nicht. Bisher umlaufende Erklärungen, etwa volkspsychologischer Art - die Deutschen seien eben "analfixiert" - , lehnt er ab. Mit Recht. Es darf durchaus auch ungelöste sprachlich-kulturelle Rätsel geben.

    Hans-Martin Gauger: "Das Feuchte und das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache". C. H. Beck, München 2012. 282 S., 16.95 Euro