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Fallstricke für Optionskinder

Optionskinder sind in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern, die zwei Staatsangehörigkeiten haben: die der Eltern und die Deutsche. Im Alter von 18 bis 23 Jahren müssen sie sich staatsbürgerrechtlich entscheiden, sonst bürgert Deutschland sie aus.

Von Anke Petermann | 21.02.2013
    Roberto Cancigilia wurde in Deutschland geboren. Sein Vater ist Italiener, die Mutter stammt aus Malaysia. Der Sohn hat zwei Staatsangehörigkeiten:

    "Ich besitze die deutsche und die italienische."

    Und er kann beide behalten, hat die Einbürgerungsbehörde dem 22-Jährigen unlängst mitgeteilt. Glück gehabt, alles richtig gemacht. Doch es hätte auch anders ausgehen können. Denn wie die meisten sogenannten Optionskinder kannte Roberto Canciglia die Fallstricke des deutschen Rechts nicht. Und das komplizierte Anschreiben, das ihm die Einbürgerungsbehörde zum 18. Geburtstag schickte, hatte er missverstanden, obwohl Deutsch seine Muttersprache ist. Dass er den Doppelpass nicht automatisch behalten würde, sondern nur auf Antrag, war dem jungen Mann gar nicht klar:

    "Ich dachte eigentlich, dass wenn das Zweitland ein EU-Land ist, dass man beide behalten darf, und deshalb dachte ich eigentlich nicht, dass ich da einen Antrag stellen muss. Aber es ist so, dass man auch dann einen Beibehaltungsantrag stellen muss."

    Sein Vater schleppte Roberto vor zwei Jahren auf eine Informationsveranstaltung zur sogenannten "Optionspflicht". Die Beratung dort überzeugte Canciglia, dass es höchste Zeit war, den Formalitätenkram in Angriff zu nehmen.

    "Also, ich hab meinen Antrag mit 20 gestellt, und es war wirklich ziemlich in letzter Minute. Wenn ich ihn nach meinem 21. Geburtstag gestellt hätte, wäre es zu spät gewesen. Der Antrag muss bis zum 21. Geburtstag gestellt sein."

    Genau das versäumte soeben ein junger Afghane, dessen Akte Martin Jungnickel gerade auf dem Tisch hat. Jungnickel ist Chef der größten deutschen Einbürgerungsbehörde im Regierungspräsidium Darmstadt. Afghanistan gehört mit Marokko, Iran und Syrien zu den Ländern, die ihre Bürger nicht aus der Staatsangehörigkeit entlassen. Deshalb dürfen Optionskinder aus diesen Staaten ihren Doppelpass behalten. Allerdings nur, wenn sie das rechtzeitig vor Ablauf des 21. Lebensjahres beantragen. Der Afghane ist zu spät dran,

    "Und obwohl ich inhaltlich einen solchen Antrag immer genehmigen könnte, muss ich ihn hier ablehnen. Und das heißt für ihn: Er muss nun bis zu seinem 23. Lebensjahr versuchen, seine afghanische Staatsangehörigkeit aufzugeben, was ihm nicht gelingt, aus dem afghanischen Recht heraus. Das heißt, dieser Mensch weiß jetzt schon, und das habe ich ihm auch so gesagt, dass er die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren wird,"

    bedauert Martin Jungnickel, der als Verwaltungsbeamter ein Gesetz anwenden muss, das er selbst für überflüssig, ungerecht, und integrationsfeindlich hält. Das wird er auch dem Innenausschuss des Deutschen Bundestags sagen, zu dessen Sitzung er Mitte März als Sachverständiger eingeladen ist. Zurück zur Akte auf Jungnickels Schreibtisch. Der junge Afghane kann gegen seine unausweichlich drohende Ausbürgerung keinen Widerspruch einlegen.

    "Es geht nur eine Klage. Das heißt, wenn ein solcher Bescheid von mir herausgegeben wird, muss der Bürger dagegen klagen, und dann müssen wir mal schauen, was die Gerichte dazu sagen."

    Eine Deutschtürkin aus Hanau war Anfang des Jahres das erste sogenannte Optionskind bundesweit, das ausgebürgert wurde. Die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit hatte sie zwar beantragt, bevor sie 23 geworden war, konnte aber bis zum Ablauf des Lebensjahres die Entscheidung der türkischen Behörden nicht vorlegen. Etwa hundert weiteren Deutschen mit Migrationshintergrund allein im Zuständigkeitsbereich des Regierungspräsidiums Darmstadt wird es in diesem Jahr ähnlich gehen. Teilweise ist ihnen nicht klar, dass Behörden in der Türkei und anderswo Monate, manchmal Jahre, benötigen, um über eine Entlassung zu entscheiden. Martin Jungnickel rechnet bald mit ersten Klagen und Gerichtsurteilen.

    "Ich könnte mir vorstellen, dass die eine oder andere Fallkonstruktion tatsächlich beim Bundesverfassungsgericht landet."


    Aufgeschreckt hat der Fall der ausgebürgerten Deutschtürkin Optionskinder wie Bekir, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte. Der 19-Jährige fragt sich,

    "Was sie denn falsch gemacht hat, wie früh oder spät sie sich um den Fall gekümmert hat. Ja, ich bin jetzt momentan im Abi-Stress, aber parallel dazu muss ich mich langsam entscheiden"

    obwohl der Rüsselsheimer den Zwang, sich für die deutsche oder die türkische Staatsangehörigkeit zu entscheiden, als unzumutbar empfindet. Die Rechtsprechung meint der Abiturient dabei hinter sich zu haben.

    "Laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs wird die Staatsangehörigkeit als soziale Identität angesehen, und ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und sehe Deutschland als mein Heimatland, und ich bin gelegentlich in der Türkei, meine Familie lebt in der Türkei, meine Großeltern, meine Cousins, meine anderen Verwandten, und ich sehe auch die Türkei als meine Heimat. Also, ich habe zwei Heimatländer und meine soziale Identität besteht darin, dass ich Deutschtürke bin."

    Und dazu gehörten zwei Staatsangehörigkeiten, betont Bekir, weiß aber, dass dieses Argument für einen Beibehaltungsantrag nicht ausreicht. Der 19-Jährige ordnet sich politisch dem konservativen Spektrum zu. Im Herbst geht Bekir erstmals zur Bundestagswahl. Der Gymnasiast hofft, dass die CDU als Partei seiner Wahl bis dahin die Optionspflicht dorthin entsorgt hat, wo sie seiner Ansicht nach hingehört: auf den Müllhaufen der Geschichte.