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Falsch verknüpft

Die Suche nach einem Zeichen im Gehirn von Verbrechern wird mit jeder neuen Methode der Hirnforschung wieder aufgenommen. Anfang des 19. Jahrhunderts tasteten die Phrenologen mit wenig Erfolg nach spezifischen Beulen und Dellen am Schädel von Kriminellen. Mit dem Computertomographen gelang es vor 20 Jahren, eine Verkleinerung im Stirnhirn von Mördern zu beschreiben. Die funktionelle Magnetresonanztomographie erlaubte die Kartierung veränderter Nervenaktivierungsmuster bei Psychopathen.

Von Volkart Wildermuth | 29.06.2011
    Wissenschaft im Brennpunkt hat gerade erst darüber berichtet. Und schon wieder gibt es eine neue Studie in der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Science". Die Autoren zeichnen die Verknüpfungen verschiedener Hirnregionen nach, um herauszufinden, warum manche Gefängnisinsassen so unbeherrscht sind.

    Mörder, Vergewaltiger, Drogenhändler im großen Stil, das sind die Probanden in den Experimenten von Benjamin Shannon. Der Hirnforscher von der Washington Universität in St. Louis ist in ein Hochsicherheitsgefängnis für jugendliche Häftlinge gefahren, weil es hier besonders viele besonders impulsive Menschen gibt. Und Shannon will wissen, was im Gehirn die unbeherrschten und aufbrausenden, von den ruhigen und abwägenden Typen unterscheidet.

    "Wir sind mit einem fahrbaren Hirnscanner in ein Jugendgefängnis der höchsten Sicherheitsstufe gefahren. Dort haben wir die Selbstkontrolle und Impulsivität der Leute mit psychologischen Tests bestimmt und dann mit einer neuen Methode untersucht, welche Verbindungen im Gehirn besonders wichtig für die Impulsivität sind."

    Die Strafgefangenen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren legten sich ein paar Minuten in den Scanner und sollten an nichts Spezielles denken. Dabei ändern sich die Aktivitäten der verschiedenen Hirnregionen ständig. Mit einer neuen mathematischen Methode untersuchte Benjamin Shannon zuerst bei jedem einzelnen Gefangenen, welche Regionen jeweils gemeinsam besonders aktiv waren. So kartierte er eine Vielzahl von individuellen Kommunikationswegen im Gehirn. Anschließend fragte der Hirnforscher, welche dieser Verknüpfungen haben etwas mit der Impulsivität zu tun? Die hatte Benjamin Shannon zuvor mit dem Fragebogen eingeschätzt. Nach aufwendigen Rechnungen zeigte sich: Ob einer der jugendlichen Häftlinge aufbrausend oder kontrolliert ist, hängt davon ab, mit welchen anderen Zentren die sogenannte Prämotor-Region verbunden ist. Diese Region leitete komplexe Bewegungen und Handlungen ein.

    "Ich war überrascht, darauf hätte vorher niemand gewettet. Die meisten hätten auf das Stirnhirn getippt, auf emotionale Regionen oder Strukturen aus dem tiefen Reptiliengehirn. Im Nachhinein macht es aber wirklich Sinn. Diese Regionen sind so etwas wie das Tor vom Denken zum Handeln."

    Bei eher kontrollierten Häftlingen kommuniziert diese wichtige Region der Handlungssteuerung mit Zentren, die etwas mit Kontrolle und Aufmerksamkeit zu tun haben, bei den impulsiven Insassen dagegen mit dem sogenannten Default-Netzwerk. Default ist das englische Wort für Standard und bezeichnet hier Hirnaktivitäten, die auftreten, wenn wir an nichts Bestimmtes denken, wenn wir tagträumen und die Gedanken frei wandern. Bei impulsiven Strafgefangenen, so vermutet Benjamin Shannon, können spontane Impulse also schnell zu Handlungen führen - ohne dass bewusste Kontrollregionen eingreifen. Dieses Muster kannte der Hirnforscher - allerdings nicht von Jugendlichen, sondern von Kindern. Bei denen ist die Verknüpfung der Prämotor-Region mit dem Default-Netzwerk normal, auch deswegen sind Kinder in der Grundschule eher spontan. In der Oberschule dagegen haben sie die meisten gelernt, ruhig sitzen zu bleiben. Ihre Prämotor-Region ist mit den Netzwerken der bewussten Kontrolle verbunden.

    "Im Grunde wird das Gehirn mit den Jahren immer weniger impulsiv. Und diese sehr impulsiven Strafgefangenen, die sind vielleicht 15 Jahre alt, aber ihre Prämotor-Region ist wie bei einem Siebenjährigen verknüpft."

    Der normale Reifungsprozess des Gehirns ist bei ihnen verzögert, die Kontrollmechanismen greifen noch nicht. Das ist ein weiterer interessanter Mosaikstein, das dabei hilft, extrem impulsives Verhalten besser zu verstehen, meint auch Jürgen Müller, Professor für Forensische Psychiatrie in Göttingen. Beide Forscher betonen aber, dass die Wissenschaft noch weit davon entfernt ist, die Wurzel des Verbrechens im Gehirn beschreiben zu können. Bei einem Kind die Verknüpfung der Prämotor-Region zu vermessen, um eine kriminelle Karriere vorherzusagen, macht keinen Sinn. Ebenso wenig entschuldigt eine biologische Basis für impulsives Verhalten eine schwere Körperverletzung. Benjamin Shannon sieht aber durchaus Perspektiven für eine Therapie. Verknüpfungen im Gehirn lassen sich mit viel Übungsaufwand verändern. Vielleicht sollte im Gefängnis Instrumentenunterricht angeboten werden.

    "Da sind komplexe Bewegungssteuerungen erforderlich genauso wie eine bewusste Kontrolle. Wir würden gerne prüfen, ob das Erlernen eines Instrumentes die Verknüpfungen verändert und vielleicht auch die Impulsivität."


    Zum Thema

    "Wissenschaft im Brennpunkt":
    Die Neuvermessung des Bösen
    Teil 1: Das Verbrechergehirn
    Teil 2: Die Verbrecherpsyche