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Falsche Interviewangebote
Und dann meldet sich "Claas Relotius"...

Ein Unbekannter gibt sich Medienredaktionen gegenüber als "Claas Relotius" aus. Auch @mediasres kontaktiert er. Das Team führt ein Vorgespräch und entscheidet sich dann gegen ein Interview. Trotzdem steht am Ende der Recherche ein großes Fragezeichen.

Von Annika Schneider | 07.01.2019
    Der Wahlspruch des "Spiegel"-Gründers Rudolf Augstein ("Sagen, was ist") an einer Wand im "Spiegel"-Verlagsgebäude in Hamburg
    "Sagen, was ist": Der Wahlspruch des "Spiegel"-Gründers Rudolf Augstein im "Spiegel"-Verlagsgebäude in Hamburg. (picture alliance / dpa / Christian Charisius)
    Am Freitagmittag landet in der @mediasres-Redaktion eine E-Mail, mit der dort keiner mehr gerechnet hat: Es ist die vermeintliche Antwort auf eine Interviewanfrage, die schon vor Wochen an Claas Relotius ging. "Inzwischen kann ich mir vorstellen, in einem Radio-Interview zu allen Vorwürfen Stellung zu nehmen", heißt es in der Mail. Unterschrieben ist sie mit "Claas Relotius".
    Eine Nachricht wie diese weckt journalistische Grundinstinkte. Das Tagesteam ist wie elektrisiert: Ein Interview mit dem als Betrüger entlarvten Journalisten wäre ein Coup für die Dlf-Mediensendung. Klar ist aber auch: Ob die Nachricht tatsächlich von dem geschassten "Spiegel"-Redakteur kommt, lässt sich auf den ersten Blick nicht feststellen.
    Angebot geht auch an andere Redaktionen
    Erst am Montag kommt heraus, dass ein Unbekannter auch mehreren anderen Redaktionen Interviews mit "Claas Relotius" angeboten hat, darunter dem rbb-Programm radioeins. Laut einer Pressemeldung des NDR bestreiten sowohl Relotius‘ Anwalt als auch die stellvertretene "Spiegel"-Chefredakteurin Susanne Beyer, dass es sich um den echten Claas Relotius handelt.
    Die @mediasres-Redaktion kann das am Freitag noch nicht wissen und macht sich selbst an die Verifikation. Redakteurin Bettina Schmieding ruft die in der Mail genannte Handynummer an. Tatsächlich meldet sich ein Mann und ist einverstanden, dass beim Vorgespräch mehrere Journalisten per Lautsprecher mithören.
    Wenige konkrete Aussagen
    In Stimme und Sprachduktus ähnelt er tatsächlich dem preisgekrönten Auslandsreporter. Die anwesenden Journalisten haben das "Idol einer Generation", wie der "Spiegel" Relotius nannte, zwar nie persönlich getroffen, nutzen für den Abgleich aber Tonaufnahmen aus dem Internet.
    Rund 20 Minuten dauert das Telefonat. Der Angerufene antwortet bereitwillig auf alle Fragen, wird dabei aber wenig konkret. Er sei wütend auf den "Spiegel", sagt er, und dass er nur das geliefert habe, was bestellt worden sei. Außerdem erwähnt er, dass er noch mehr E-Mails verschickt habe.
    Wie er nachweisen könne, dass er tatsächlich Relotius sei, fragt Schmieding. Das wisse er doch nicht, antwortet der Mann sinngemäß. Auf Nachfrage gibt er die Kontaktdaten seines Anwaltes heraus, der allerdings ad hoc nicht zu erreichen ist.
    Ein offensichtlicher Fehler
    Über Kontakte kommen die @mediasres-Journalisten an die Handynummer, die Relotius genutzt hat, als er per SMS seine Reporterpreise zurückgab. Sie entspricht nicht der Nummer des Anrufers. Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, dass der gefallene Reporter inzwischen seine Nummer gewechselt hat, um dem Medienrummel zu entgehen.
    Weitere Hinweise finden sich in der Mail selbst. Verschickt wurde sie zwar nicht vom offiziellen "Spiegel"-Account, angeblich aber von diesem weitergeleitet. Der Nachrichtenkopf weiter unten in der Mail, der das belegen soll, lässt sich schnell als schlechte Fälschung entlarven: Angeblich erfolgte die Weiterleitung am Mittwoch, 3. Januar. Tatsächlich war das ein Donnerstag.
    Gefälschte Mails als mögliches Markenzeichen
    Also alles Fake? Kaum ist sich die Redaktion einig, kommt sie schon wieder ins Grübeln. Lassen sich gefälschte E-Mail-Köpfe nicht schon als Quasi-Markenzeichen von Relotius betrachten? Schließlich hat er auf genau diese Weise auch die Faktenchecker des "Spiegel" betrogen.
    Die E-Mail selbst wirft allerdings ebenfalls Fragen auf: Sie deckt sich nicht mit der vom Dlf gestellten Anfrage. Kontaktiert hat die Redaktion Relotius nämlich über ein Formular auf seiner Internetseite und nicht über seine Adresse beim "Spiegel". Außerdem ist der Inhalt der ursprünglichen Anfrage in der Antwort nicht mehr zu sehen, stattdessen steht dort "[message clipped]". Und drittens ist die Nachricht von "Relotius" nicht direkt an @mediasres adressiert, sondern an die Dlf-Pressestelle. Das deckt sich nicht mit der von der Redaktion angegebenen Kontaktadresse.
    War er es doch?
    Es häufen sich die Indizien, dass die E-Mail gefälscht ist. Dass der Mann tatsächlich Sendezeit bekommt, ist schnell vom Tisch. Eine Antwort von Relotius‘ Anwalt ist schließlich der letzte Sargnagel, um das Exklusivinterview zu beerdigen: Die angegebene Handynummer entspreche nicht der seines Mandaten, schreibt er. Dieser beabsichtige auch nicht, überhaupt ein Interview zu geben.
    Noch einmal steht eine Hypothese im Raum: War am Telefon doch der echte Relotius, und sein Anwalt versucht nun im Nachhinein, ihn vor sich selbst zu schützen? Die Vermutung, dass der echte "Spiegel"-Redakteur am Telefon war, lässt sich nicht endgültig widerlegen.
    Vages Zitat vom "Spiegel"
    Der NDR zitiert in seiner Pressemitteilung eine Aussage der stellvertretenden "Spiegel"-Chefredakteurin Beyer über Fotos, die im Zusammenhang mit den gefälschten Mails aufgetaucht sind: "Da wir mit Claas Relotius zusammengearbeitet haben, wissen wir, wie er aussieht. Das ist nicht Claas Relotius. Jedenfalls ist der Mann, den wir auf den Fotos sehen, nicht der Claas Relotius, den wir kennen", sagt sie.
    Vor allem der letzte Satz scheint vage. Ist man sich beim "Spiegel" inzwischen unsicher, inwieweit man dem eigenen Wissen trauen kann?
    Satirischer Hintergrund denkbar
    Fest steht, dass das Interviewangebot mit einigem Aufwand und einiger Expertise gefälscht worden ist. Möglicherweise steckt dahinter ein Journalist oder jemand, der sich in der Medienlandschaft auskennt.
    Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass die E-Mails einen satirischen Hintergrund haben: Wenn ein großes deutsches Medium einer falschen Geschichte über einen journalistischen Betrüger aufsäße, würde das der Causa Relotius noch einmal ein ganz neues Kapitel hinzufügen - und dem Ansehen des deutschen Journalismus weiteren Schaden zufügen.
    Letztendlich beschließt die @mediasres-Redaktion, den Rechercheprozess transparent zu machen. Denn er zeigt: Guter Journalismus darf nicht unter dem Druck stehen, dass am Ende jeder langen Recherche eine "Geschichte" steht. Ob die Medienbranche diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird, ist eine der Kernfragen nach dem Betrugsfall beim "Spiegel".