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Familiäre Psychorätsel ohne klare Deutung

Sie habe "einen afrikanischen Namen und schwarze Haut", betont die Schriftstellerin Marie NDiaye immer wieder. Aber sie fühle sich "zu hundert Prozent als Französin". Denn ihre französische Mutter, von Beruf Lehrerin, erzog ihren Bruder und sie allein.

Von Christoph Vormweg | 15.08.2010
    Ihr senegalesischer Vater hingegen spielte nie eine Rolle, also auch nicht die afrikanische Kultur. Für Marie NDiaye wurden Lesen und Schreiben schon als Schülerin zum Lebenselixier. Als sie 18 wurde, erschien ihr erster Roman: im legendären Verlagshaus "Les Éditions de Minuit", wo schon Samuel Beckett und Alain Robbe-Grillet entdeckt worden waren. Marie NDiaye galt fortan als "Wunderkind". Seit 2007 lebt die dreifache Mutter mit ihrem Mann in Berlin. Unter einem Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy wollten sie nicht in Frankreich bleiben. 2009 erhielt Marie NDiaye, mittlerweile 42 Jahre alt und bei Gallimard unter Vertrag - den wichtigsten französischen Literaturpreis, den "Prix Goncourt", für ihren Roman "Drei starke Frauen". In der Übersetzung von Claudia Kalscheuer ist er jetzt auf Deutsch erschienen.

    Drei eigenständige, nur minimal verzahnte Erzählungen über drei völlig verschiedene Frauen: Trifft da die Bezeichnung Roman überhaupt zu? Das ist eine naheliegende, doch nebensächliche Frage. Denn sie sagt nichts über die literarischen Qualitäten Marie NDiayes aus. Wichtiger erscheint die Frage, warum die Goncourt-Preisträgerin ihren Roman "Drei starke Frauen" als "viel hoffnungsvoller" bezeichnet hat - im Vergleich zu ihren bisherigen Werken. "Viel hoffnungsvoller" - was heißt das bei einer Schriftstellerin, die das Alltägliche in befremdliche, rätselhafte, oft albtraumhafte Szenarien entgleisen lässt? Dürfen wir diesmal mit so etwas wie einem "Happy End" rechnen, mit einem Ankommen ihrer drei Protagonistinnen, deren einziger gemeinsamer Nenner ihre senegalesischen Wurzeln sind? Mitnichten. Es genügt, die letzten Seiten von Marie NDiayes Roman zu lesen: Da wird die kinderlose, von ihrer Schwiegermutter verstoßene Witwe Khady Demba auf der Flucht in Richtung Europa erschossen: am berüchtigten Grenzzaun der in Marokko gelegenen spanischen Enklave Melilla. Es ist das Ende eines Horrortrips, auf dem Khady Demba beraubt und betrogen wurde und als Prostituierte im Hinterzimmer einer Garküche gearbeitet hat, um zu überleben:

    "Sie hatte nicht viel verloren, würde sie denken – und mit dem ihr eigenen unwägbaren Stolz, ihrem diskreten, unerschütterlichen Selbstbewusstsein würde sie ebenfalls denken: Ich bin ich, Khady Demba, während sie mit tauben Schenkeln, geschwollener Vulva und brennender, gereizter Scheide viele Male am Tag von der Art Matratze, einem gräulichen, stinkenden Stück Schaumstoff, aufstehen würde, die für so lange Monate ihr Arbeitsplatz sein sollte.
    Sie hatte nicht viel verloren, würde sie denken.
    Denn niemals, auch in der tiefsten Niedergeschlagenheit und Erschöpfung, würde sie sich nach der Zeit ihres Lebens zurücksehnen, in der ihr Geist in dem eingeschränkten, nebelhaften, schützenden und auslöschenden Raum der unbewegten Träume umherirrte, damals, als sie in ihrer Schwiegerfamilie lebte.
    Ebenso wenig sehnte sie sich nach der Zeit ihrer Ehe zurück, als alle ihre Gedanken nur um das Warten auf eine Schwangerschaft kreisten.
    Tatsächlich sehnte sie sich nach gar nichts zurück, sie war vollständig eingetaucht in die Wirklichkeit einer grauenhaften Gegenwart, von der sie jedoch ein klares Bild hatte, die sie mit einem Denken durchdrang, das zugleich von Pragmatismus und von Stolz erfüllt war (niemals würde sie sinnlose Scham empfinden, niemals würde sie den Wert des menschlichen Wesens vergessen, das sie war, Khady Demba, anständig und tapfer), und die sie vor allem als vorübergehend ansah, überzeugt davon, dass diese Zeit des Leides ein Ende hätte und dass sie zwar sicher nicht dafür belohnt werden würde (sie konnte sich nicht vorstellen, dass man ihr irgendetwas schuldig war dafür, dass sie gelitten hatte), aber dass sie einfach zu etwas anderem übergehen würde, das sie noch nicht kannte, jedoch mit Neugier erwartete."


    Ihre Würde verliert Khady Demba bis zuletzt nicht – trotz aller Erniedrigungen und Enttäuschungen, die im Verrat des Mannes gipfelten, der mit ihr aufgebrochen war, sie aber unterwegs zurückließ. Das macht sie für Marie NDiaye zu einer "starken Frau". Khady Dembas Geschichte am Schluss des Romans ist die schockierendste, auch die politisch brisanteste: ein Aufschrei gegen die Unmenschlichkeit an den Grenzen zur Festung Europa. Doch gerade die engagierte Botschaft senkt den literarischen Reiz. Anders als Khady Demba, die zu einer Art Märtyrerin überhöht wird, sind die beiden anderen "starken Frauen" in den Fängen des Alltäglichen geerdet. Ihre Seelen-Porträts sind subtiler, zwiespältiger, andeutungsschwerer, überraschender. In der ersten Geschichte reist die Pariser Rechtsanwältin Norah nach langer Funkstille wieder einmal zu ihrem verhassten Vater nach Afrika, der die Familie verließ, als sie noch ein Kind war:

    "Und der, der sie empfing oder wie durch Zufall auf der Schwelle seines großen Betonhauses auftauchte, in einem schlagartig so starken Licht, dass es von seinem hell gekleideten Körper auszugehen und sich von dort zu verbreiten schien, dieser Mann, der klein und schwerfällig dastand und ein weißes Strahlen aussandte wie eine Neonleuchte, dieser plötzlich auf der Schwelle seines übertrieben großen Hauses erschienene Mann hatte, so sagte sich Norah sofort, nichts mehr von seinem Hochmut, von seiner Statur, von seiner früher auf geheimnisvolle Weise gleichbleibenden und dadurch unvergänglich wirkenden Jugendlichkeit."

    Gleich im ersten Satz des Romans "Drei starke Frauen" demonstriert Marie NDiaye ihren klaren, präzisen Erzählstil: mit einem ihrer vielen verschachtelten, genau austarierten Langsätze, die auch in der Übersetzung von Claudia Kalscheuer ein Lesegenuss sind. Mehr noch: Marie NDiaye deutet bereits ihr Faible für das Unheimliche und Magische an. Die kalte Strahlung von Norahs Vater - ist sie nur eine Halluzination der übermüdeten, aufgewühlten Tochter? Oder ist das Übernatürliche im fernen Afrika immer mit von der Partie? In jedem Fall: Norahs Wahrnehmung und damit die der Leser gerät sofort in Schieflage. In der Verunsicherung wächst die Wachsamkeit für kleinste Indizien, die den Wandel im väterlichen Wesen vielleicht erklären könnten. Episoden aus der Vergangenheit drängen zurück ins Bewusstsein. Nach und nach setzt sich so das Puzzle eines familiären Dramas zusammen, das sich in den letzten drei Jahrzehnten zwischen Frankreich und Senegal abgespielt hat: eines Dramas, das in Norah ein explosives Gemisch aus Hass, Misstrauen und Restliebe aufgestaut hat.

    Für Marie NDiaye sind Familiengeschichten ein "Kondensat der Welt", das Tragisches und Groteskes vereint. Die Familie ist ihr liebster Brennspiegel. Denn dort nimmt fast alles, was schief geht, seinen Anfang. So wirft der Versuch, sich über ihr gestörtes Verhältnis zum Vater Klarheit zu verschaffen, Norah auf sich selbst zurück, auf ihre eigene Rolle als alleinerziehende Mutter einer Tochter. In der Doppelung und gleichzeitigen Brechung der analytischen Sicht liegt der Reiz der Geschichte. Denn auch das selbst gebastelte Bild der Pariser Vorzeigemutti zeigt bald tiefe Risse. Die Zwickmühlen von Norahs Patchworkfamilie mit dem deutschstämmigen Jakob und dessen Tochter rücken mit in den Fokus der Geschichte.

    Marie NDiayes Kunst besteht hier in der Wahl der Momente, wann sie uns welchen Stein des familiären Großpuzzles präsentiert. Die Spannung jedenfalls steigt mit jeder Seite – vor allem, als wir den Grund erfahren, warum Norah von ihrem Vater gebeten wurde, in den Senegal zu kommen. Als gelernte Rechtsanwältin soll sie ihren im Gefängnis sitzenden Bruder Sony verteidigen - auch das eine hochemotionale Angelegenheit. Denn Sony wurde als kleiner Junge von seinem Vater bei der Rückkehr in den Senegal einfach mitgenommen, also gleichsam entführt. Und so öffnet sich der Abgrund eines dunklen Familiengeheimnisses: Sony, der ganze Stolz seines Vaters, hat nämlich gestanden, seine Stiefmutter ermordet zu haben. Doch sagt er wirklich die Wahrheit? Als Jakob mit den Kindern anreist, wird die Lage für Norah immer komplizierter. Denn ihr Vater behauptet plötzlich, sie habe schon einmal für längere Zeit im Senegal gelebt. Norah aber kann sich nicht erinnern:

    "Dann fasste sie sich wieder, dachte an Sony und drängte Angst und Zweifel, Unbehagen und Enttäuschung zurück.
    Es war unwichtig, was [ihr Vater] sagen konnte, da sie ihn alles ausspeien lassen würde.
    'Du warst gekommen, um eine gewisse Nähe zu mir zu suchen, ja. Du warst etwa, ich weiß nicht genau, achtundzwanzig oder neunundzwanzig.'
    Er sprach völlig leidenschaftslos.
    Er schien jeden Anschein eines Kampfes zwischen ihnen vermeiden zu wollen.
    Jakob und die Kinder hörten aufmerksam zu, und Norah spürte, dass das liebenswürdige Verhalten ihres Vaters, die Autorität seines Alters und die Überreste seines Wohlstands ihm bei den drei anderen eine Glaubwürdigkeit verlieh, die sie nicht mehr besaß.
    Sie neigten jetzt dazu, ihm zu glauben und an ihr zu zweifeln.
    Hatten sie nicht recht?
    Und wurden nicht alle ihre Erziehungsprinzipien, in ihrer Strenge, ihrem Glanz, ihrer Unbeugsamkeit, infrage gestellt?
    Denn wenn sie denken mussten, sie habe gelogen oder etwas verschleiert oder merkwürdigerweise vergessen, würde sie jetzt um so schuldiger dastehn, als sie in ihrem gemeinsamen Leben eine so unbedingte Aufrichtigkeit gefordert und gepredigt hatte.
    Hatten sie denn nicht recht?
    Über ihre Schenkel rann eine feuchte Wärme, drang zwischen ihren Hintern und ihren Stuhl.
    Sie fasste rasch an ihr Kleid.
    Verzweifelt wischte sie sich die nassen Finger an der Serviette ab."


    Was ist wirklich geschehen, was erinnerte Einbildung oder nachhängendes Traumgebilde, was bewusst oder unbewusst verdrängt, was beschönigt oder aus Selbstschutz zusammengereimt? Solche Fragen treiben auch Rudy um, den französischen Ehemann von Fanta, der dritten "starken Frau". Mit 160 Seiten bildet diese längste Geschichte das Kernstück des Buches: das verstörende Psychogramm einer zerrütteten Ehe zwischen zwei Kulturen, der senegalesischen und der französischen. Wir lernen Fanta allein aus Rudys Perspektive kennen, also indirekt. Sieben Jahre nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes ist sie immer verschwiegener geworden. Und auch hier fächert Marie NDiaye die familiäre Vergangenheit kunstvoll auf: in all ihren komplexen Widersprüchlichkeiten und Halbwahrheiten. Die Handlung beschränkt sich auf einen Tag. Rudy fährt morgens zu seiner Arbeit in einem Provinzunternehmen, das Einbauküchen vertreibt. Ihn plagen Gewissensbisse, weil er Fanta im Streit beschimpft hat wie noch nie. Das Problem: Er erinnert sich nicht mehr genau an seine Worte. Waren sie schlimm genug, um Fanta zur Trennung zu bewegen? Hat er dieser so verheißungsvoll in Afrika begonnenen Liebe nach Jahren der Krise endgültig den Todesstoß versetzt? Mit einem Telefonanruf versucht er, das Schlimmste zu verhindern.

    "'Ja?' erklang da plötzlich Fantas Stimme, so tonlos, so mürrisch [...]. Das versetzte ihm einen Schlag, dann schnürte es ihm die Kehle zu.
    So also sprach Fanta, wenn sie allein zu Hause war und nicht meinte, mit ihm zu sprechen, denn dann lag in ihrer Stimme ein Groll, eine Härte, die sie erbeben ließ – so also sprach Fanta, wenn sie sie selbst war, ohne Verbindung zu ihm, mit solch einer Traurigkeit, solch einer trostlosen Verzweiflung. [...]
    'Ich bin es, Rudy.#
    #Warte eine Sekunde, es hat geklingelt# – ihre Stimme war jetzt, da sie wusste, mit wem sie sprach, etwas weniger missmutig, wie automatisch gestrafft durch einen wachsamen, argwöhnischen Reflex, um sich kein Wort entschlüpfen zu lassen, das er beim nächsten Streit gegen sie verwenden könnte, obwohl Fanta eigentlich, dachte er, nie stritt, sondern sich damit begnügte, seinen Angriffen den Schutzwall eines hartnäckigen Schweigens, eines abwesenden und leicht schmollenden Gesichts entgegenzusetzen, aufgeblasene Lippen, herabhängendes Kinn, und er, Rudy, wusste genau, dass sie das wenige, was sie sagte, zu sorgfältig kontrollierte, als dass es je ein Satz von ihr war, der seinen Zorn entfachte – er, Rudy, wusste genau, dass ebendiese Gleichgültigkeit ihn in Rage versetzte, die ihr so bewusst, so einstudiert im Gesicht stand, und dass sich Fantas Züge, je mehr er sich aufregte, immer mehr verschlossen, worauf er sich immer weiter in seine Wut hineinsteigerte, bis er in dieses gespielt ungerührte Gesicht Worte spuckte, die er dann verzweifelt bereute, auch wenn er später, wie an ebendiesem Morgen, bezweifelte, sie tatsächlich gesagt zu haben."


    Die Angst frisst sich bis in die letzten Zellen: die Angst vor dem Verlust der großen Liebe. Rudy hat Fanta mit Lügen nach Frankreich gelockt, in die tiefste Provinz, schlimmer: in die Armut, aus der sich Fanta im Senegal durch ihren Aufstieg zur Französischlehrerin am Gymnasium selbst befreit hatte. Doch wer hat Schuld? Anklage wechselt ab mit Selbstbezichtigung, Selbstrechtfertigung mit Wutrede. Rudys Teufelskreiseln am Rand des Wahnsinns ist - anders als bei der Mehrzahl heutiger Schriftsteller - nicht alkohol- oder drogenfrisiert. Marie NDiaye bemüht allein eine Hämorride, die in der Sommerhitze immer stärker zu jucken und zu brennen beginnt. Zum Seelenleid kommt also der physische Schmerz. Das verschärft nicht nur Rudys Eindruck, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Es erhöht auch seine Risikobereitschaft. Denn er möchte retten, was zu retten ist - trotz der Demütigungen der letzten Jahre, trotz Fantas Affäre mit seinem Chef, dem Einbauküchen-Unternehmer. Warum hat sie sich bloß darauf eingelassen, um dann wieder zurückzukommen? Wir ahnen es: Auch Fanta, die am schwersten zu durchschauende Protagonistin in Marie NDiayes Roman "Drei starke Frauen", will retten, was zu retten ist. Dafür ist ihr kein Einsatz zu hoch. Sie hat alles getan, damit dieser Tag kommt. Denn nur eine Großkrise kann Rudy wieder zu dem Rudy machen, den sie im Senegal kennen gelernt hat, fern der Heimat – und damit fern der Familie. Beim Telefonat kommt es zum Streit, weil Rudy vorschlägt, ihren gemeinsamen Sohn Djibril von der Schule abzuholen und über Nacht zu seiner Oma, Rudys Mutter, zu bringen. Fantas Einwand: Oma möge Djibril nicht.

    "Wo war sie, seine Aufrichtigkeit, da er doch wusste (oder ein zweiter Rudy in ihm wusste es, ein jüngerer, strengerer, skrupeloserer Rudy, ein Rudy, den Enttäuschungen und Unverständnis, Selbstmitleid und die Notwendigkeit, sich selbst zu rechtfertigen und billige Entschuldigungen zurechtzulegen, noch nicht verdorben hatten) – wo war sie, die Wahrheit seiner Seele, da er doch wusste, dass er nicht an Mama dachte, wenn er erklärte, er wolle Djibril über Nacht zu ihr bringen, dass es ihm keineswegs um Mamas Freude oder Glück ging, sondern einzig und allein um seine eigene Beruhigung, weil das Fanta daran hindern würde ...
    Denn, nicht wahr, sie würde niemals davonlaufen und den Jungen zurücklassen – oder doch? [...]
    Nein, nein, sie würde nicht ohne Djibril gehen, im übrigen hatte das Kind Angst vor Rudy, und Rudy hatte in einem gewissen Sinne auch Angst vor dem Kind, denn das Kind, sein eigener Sohn, liebte ihn nicht, auch wenn sein junges Herz das nicht wusste, und er liebte auch das Haus nicht, das Haus seines Vaters ...
    Eine neue Zorneswelle stieg in ihm auf und war drauf und dran, seinen Verstand zu überfluten, er hätte in den Hörer schreien mögen: Ich werde dir nie verzeihen, was du mir angetan hast!
    Genauso gut hätte er schreien können: Ich liebe dich so sehr, ich liebe nur dich in diesem Leben, alles muss wieder so werden wie früher!
    "Also, bis heute Abend", sagte er.

    Er hängte auf, erschöpft, niedergeschlagen, beinahe betäubt, als tauche er aus einem langen wehmütigen, verletzenden Traum auf und müsse sein Bewusstsein wieder auf die Wirklichkeit um ihn herum einstellen, eine Wirklichkeit, die für ihn manchmal auch nichts anderes war, dachte er, als ein nicht enden wollender, unbewegter und kalter Traum, und ihm war, als würde er von einem Traum in den nächsten gleiten, ohne je den Ausgang des Erwachens zu finden."


    Auch Rudys Psychodrama kreist um ein Familiengeheimnis: ein traumatisches, das er verdrängt hat. Es scheint gleichsam sprachlich vereist: in einer offiziellen, plausibel erscheinenden Version, die seine Mutter immer wieder zum besten gibt. Möglicherweise hat Rudy als Kind mit angesehen, dass sein Vater in Senegal seinen schwarzen Kompagnon getötet hat. Aber es sind nur undeutliche Bilder, die in seiner Erinnerung wabern. Die ganze Wahrheit ist nicht mehr ermittelbar, da sich sein Vater im Gefängnis umgebracht hat. Und gerade diese Ungewissheit, so Fantas indirekte Botschaft, fordert Entscheidungen, um zumindest die Überreste ihrer Liebe zu retten.
    Die Stärke von Marie NDiayes Prosa ist, dass sie die familiären Psychorätsel nicht in pseudoklarer Kausalität entziffert. Im Gegenteil: Sie löst in ihrem Roman "Drei starke Frauen" das Diffuse und Widersprüchliche in der Choreografie der Annäherungs- und Abstoßungsprozesse nie völlig auf. Der Leser wird in keiner der Geschichten mit klaren Deutungen entlassen: gerade weil die Sprache die Macht besitzt, auch den Selbstbetrug zu zementieren. Anders gesagt: Marie NDiaye säht Zwielicht, indem sie die Sicht auf die vermeintliche Realität verunsichert, erschüttert, verstört. Wie schon in früheren Romanen nutzt sie dafür übernatürliche, bedrohliche Elemente. So wird Rudy auf seiner Irrfahrt mehrfach von einem Raubvogel angegriffen. Natürlich verdächtigt er Fanta, die Afrikanerin, den rächenden Vogel gesandt zu haben. Das gehört zu seinem Klischeedenken. Doch der komplexbeladene Rudy scheint zu irren.

    In ihrem Roman "Drei starke Frauen" gibt uns Marie NDiaye nie Gewissheit. Ihr großes Thema ist die Unzugehörigkeit. Das "Hoffnungsvollere", das sie in diesem Buch sieht, beschränkt sich auf die Möglichkeit der Selbsterkenntnis. Doch ist die bei Marie NDiaye immer ein quälender Prozess: voller Irrwege und Sackgassen.

    Marie NDiaye: "Drei starke Frauen". Roman.
    Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
    344 Seiten, 22,90 Euro.