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Familienfest

Es ist meine Lebensrealität seit 25 Jahren. Ich habe vor 25 Jahren einen Bostonian geheiratet, jüdisch, aus einer Einwandererfamilie, Ich hab nie im engeren Sinne autobiographisch geschrieben, und gleichzeitig habe ich immer mein Leben und meine Erfahrungen benützt wie man einen Steinbruch benützt. Man nimmt sich die Stücke, die man braucht; man behaut sie, man macht Literatur daraus. Denn darum geht es ja, es geht nicht um die Fakten, es geht nicht um die rohen Daten, sondern es geht darum, was man literarisch daraus macht. Edna ist und ist nicht eine Frau, die ich kenne, aber es ist natürlich die Realität meiner angeheirateten Familie, es ist meine Realität seit 25 Jahren. Ich habe sieben Jahre in den USA gelebt, fünf davon in Boston, zwei davon in New York. Seit sieben Jahren pendle ich wieder, bin ein halbes Jahr in Österreich, ein halbes Jahr in den USA – also ich kenne eben Boston genauso gut wie ich andere Städte kenne, in denen ich lange gelebt habe; und ich kenne diese Familie aus erster Hand.

Lerke von Saalfeld | 15.08.2003
    In ihrem neuesten Roman Familienfest beschreibt Anna Mitgutsch eine weit verzweigte jüdische Familie in Boston. Sie "erfindet Neues mit Hilfe des Gewesenen", wie es einmal Ruth Klüger ausgedrückt hat. Die Autorin besichtigt im Rückblick das 20.Jahrhundert aus der Sicht und den Erfahrungen einer Familie, die zu Beginn des Jahrhunderts in die USA einwanderte. Im Mittelpunkt steht Edna, die erste ihrer Familie, die in den USA - noch vor dem Ersten Weltkrieg - geboren wurde:

    Die Großfamilie, die Edna noch gelebt hat, die gibt es nicht mehr. Es gibt auch diese, wenn man es so nennen kann unter Anführungsstrichen, es gibt auch diese jüdischen schtetl in den amerikanischen Großstädten nicht mehr, wie die lower eastside in New York oder wie Dorchester in Boston. Jede Gruppe ist immer in größere historische Geschehnisse eingebettet, aber das heißt nicht, daß es ein totaler Zerfallsprozeß ist. Es ist eher, wenn ich bißchen außerliterarisch werden darf, die Generation, die jetzt so zwischen 20 und 35 ist, die wenden sich schon wieder zurück zur Tradition, auf eine etwas nostalgische Weise, aus zweiter Hand sozusagen. Aber es ist nicht so eindeutig dieser Zerfallsprozeß.

    Die Autorin widerspricht der Lesart, sie schildere eine Familie im Niedergang, sie will vielmehr auch die zukunftsorientierten Möglichkeiten betonen. Dennoch ist das Familienleben überschattet: Schon auf Seite 16 des Romans beschreibt die Autorin die Gefühle Ednas, die im Kreise ihrer Familie darüber nachdenkt, "würde es ihr gelingen, nicht daran zu denken, zumindest nicht an diesem Abend, daß die Familie vor ihren Augen unablässig zerfiel und daß die Jüngeren aufgehört hatten, sich als verwandt und über alle Differenzen hinweg einander zugehörig zu betrachten".

    Der Roman setzt ein mit dem Sederfest. Am Vorabend des Pessach, dem Fest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, ist die Familie um die 85-jährige Edna versammelt. Das Seder-Mahl wird nach festen Riten vollzogen, niedergelegt in der Hagada. Und nach dieser vorgeschriebenen Ordnung komponiert auch Anna Mitgutsch ihr erstes großes Kapitel von über 150 Seiten, überschrieben "Edna". Sie ist das leibhaftige Gedächtnis der Familie, sie erzählt Geschichten über ihre Vorfahren; sie hält lebendig, was sonst dem Vergessen anheim gegeben wäre. Das Erinnern wird bei Anna Mitgutsch zur literarischen Form

    Als schöpferischer Akt ja, und als ganz zentrales Element des Judentums. Es ist auch ein ganz zentrales Element in meinen Werken, auch in meinen frühen Büchern. Ohne Erinnern gibt es keine Literatur, ohne Erinnern gibt es keine Kontinuität. Ein Volk, eine Religion, das alles transportabel erhalten muß, weil es ja kein Land hat über zweitausend Jahre, braucht Erinnerung als identitätsstiftendes Element. Also in vieler Hinsicht ist Erinnerung in diesem Roman ganz zentral.

    Für die Generation Ednas und ihrer Eltern, die ja auch noch in ihren Erinnerungen vorkommen, ist Erinnerung doch identitätsstiftend. Es ist ja nicht Zufall, daß das erste Großkapitel der Tag ist, an dem Erinnern im Zentrum steht, nämlich der erste Tag vom Pessach, der Pessach-Seder. Die identitätsstiftende Komponente des Erinnerns nimmt allerdings ab bei der nächsten Generation, bei ihrem Großneffen Marvin. Auch da sind noch Erinnerungen, aber die sind individuell, die sind nicht mehr repräsentatitiv, um sich irgendwie in der Geschichte also in Zeit und Ort zurechtzufinden.

    War bei Edna das Sedermahl das große Familienfest, so ist es bei dem Großneffen Marvin der thanksgiving day , den jeder patriotische Amerikaner feiert. Hier deutet Anna Mitgutsch schon leise Verschiebungen innerhalb der Generationen an. Verglichen mit dem festgefügten Seder-Mahl ist das Thanksgiving-Truthahn-Essen eher formlos. Anna Mitgutsch nimmt diese Feste zum Anlaß, aus jeweils verschiedenen Perspektiven einzelne Familienmitglieder und ihre Schicksale zu beschreiben, wie sie ihr Schicksal gemeistert haben, ob und wie sie ihr Glück gefunden haben.

    Das letzte Kapitel trägt den Namen Adina, sie ist die Tochter eines Neffen von Edna. Namen sind bei Anna Mitgutsch immer wohl überlegt:

    Wenn man Edna hebräisch schreibt - das Hebräische hat ja keine Vokale -, dann ist es dasselbe, wie wenn man Adina hebräisch schreibt. Damit deute ich dieses Sich-Zurückwenden wieder an, dieser Anschluß an die Geschichte. Ich predige nicht gern, ich bin nicht gern didaktisch in meinen Büchern. Ich lasse Vieles offen. Aber impliziert ist doch, daß Adina sich wieder zurückwendet zur Tradition, die sie von dieser Großtante vermittelt bekommt. Also es ist nicht ein Abdriften ins Ahistorische, wobei natürlich das Zeitgenössische Amerika nicht ausgeblendet werden kann.

    Jüdisches Familienleben an der Ostküste Amerikas im 20.Jahrhundert heißt auch, daß Weltkriege, Faschismus, Vernichtung der Juden nur am Rande vorkommen. Mitgutsch läßt dieses Thema nur kurz anklingen, eigentlich hat sie einen Roman aus amerikanischer Perspektive geschrieben. Die Familien versuchen anzukommen, sich zu assimilieren, ringen um Anerkennung in einer Gesellschaft, die sie zunächst als Außenseiter betrachtet. Anna Mitgutsch beschreibt diesen Prozeß als farbiges Panorama menschlicher Lebensläufe. Sie spürt jedem einzelnen Schicksal nach und verleiht ihren Personen Leuchtkraft. Die Generationen heben sich voneinander ab, machen unterschiedliche Erfahrungen, die Anna Mitgutsch auch sprachlich raffiniert zum Ausdruck bringt. Die alte Dame Edna besitzt eben einen anderen Wortschatz als ihre Großnichte Adina. Auch formal hat die Autorin Strenge walten lassen, damit ihr der reichhaltige Stoff nicht aus den Fingern gleitet. Beschrieben sind nur drei Tage, jeweils von morgens bis abends, drei Tage innerhalb von zwei Jahren: der erste Tag erzählt vom Seder-Mahl, der zweite Tag stellt den thanksgiving day in den Mittelpunkt; der letzte Tag ist der Tag der Beerdigung Ednas. Mit ihr geht eine Ära zu Ende, aber die Jüngeren haben verstanden, daß dieser Verlust durch sie aufgehalten werden kann. Die Familienfeste sind jeweils der Anlaß, Geschichten aus der Geschichte zu erinnern, das Jahrhundert in all seiner menschlichen Vielfalt im Spiegel einer jüdischen Familie zu beleuchten.

    Der Leser spürt, die Autorin hat mit großer Verve und Anteilnahme eine Welt nachgezeichnet, die verloren zu gehen droht und der sie auch persönlich viel verdankt. An diesem Roman zu schreiben, war für Anna Mitgutsch eine ganz besondere Erfahrung:

    Dieser Roman war für mich ein Glücksfall, es ist mein siebter Roman. Es ist wahrscheinlich, wie man es in einer Metapher sagen kann, wie lange man auf einen Roman spart. Das ist bei mir eine sehr sehr lange Zeit, 25 Jahre sind eine lange Zeit. Für mich ist dieses Buch wirklich ein Glücksfall, ich habe es in 60 Tagen geschrieben. Ich habe so etwas nur einmal erlebt, bei meinem ersten Roman, bei der "Züchtigung", daß etwas so komplett da ist, als würde das Gespann mit mir davonfahren und ich muß jetzt nur mehr die Zügel festhalten, daß ichs im Griff behalte. Ich habe nie nachdenken müssen, was kommt als nächstes. Es ist halt schon das Schreiben eine Mischung aus Intuition und bewußtem Strukturieren, und je größer die Intuition ist, glaub ich, vielleicht wird desto besser das Buch – ich trau mir das nicht mit Sicherheit zu sagen, aber desto leichter ist der kreative Prozeß zu bewerkstelligen .