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Familiengeschichte zum Anfassen

Nachdenken über Iphigenie, Goethe als Diskurstheater - selten gelingt dies so offen, impulsiv und dem Publikum zugewandt. Eine Produktion ohne Regisseur, gespielt und geleitet ausschließlich von zwei Schauspielern: Franziska Walser und Edgar Selge.

Von Stefan Keim | 01.06.2011
    Die beiden Schauspieler sitzen in der ersten Reihe. Edgar Selge meint, nun könne man mal anfangen. Franziska Walser rührt sich nicht. Er steht auf. Eine entschiedene Geste seiner Partnerin holt ihn zurück. Nun klettert Franziska Walser auf die Bühne, nachdenklich, langsam. Der Beginn dieser ungewöhnlichen Inszenierung von Goethes "Iphigenie auf Tauris" ist mehr als ein nettes Vorgeplänkel. In ihm steckt bereits der Kernkonflikt des Abends: Iphigenie nimmt sich das Recht, zu zaudern. Die Männer um sie herum drängeln, wollen handeln, auch wenn es Opfer kosten könnte. Iphigenie verweigert sich, leistet Widerstand, denkt erst einmal nach.

    Franziska Walser spielt Iphigenie in schlichtem schwarzem Kleid und reflektiert die Rolle zugleich. Sie steigt immer wieder aus, sagt "Och Gott, das haben wir doch alles gestrichen." Edgar Selge verkörpert alle anderen Rollen, den von Rachegöttinnen gehetzten Orest, seinen Freund Pylades, den um Iphigenie werbenden König Thoas und seinen um Deeskalation bemühten Diplomaten.

    "Es ist ein Dialogstück, und wenn man nicht die Möglichkeit hat, ständig andere Individuen und Subjekte zu sehen, hat man auch nicht die Möglichkeit, die Widersprüche auf die Subjekte oder ihre Individualität zu wälzen. Sondern man muss sich irgendwann mit dem Vorhandensein dieses Widerspruchs auseinandersetzen. Weil es einfach nur einen andern, einen andern Mann in diesem Fall, gibt."

    Selge braucht keine Kostümteile und Requisiten, um sich zu verwandeln. Seine gewaltige Spielenergie reicht völlig. Immer wieder entstehen zarte, berührende Momente. Das Wiedertreffen der Geschwister zum Beispiel, Orest erkennt Iphigenie zuerst nicht, will sie nicht erkennen, sondern in seiner Todessehnsucht verharren. Selge starrt, verkrampft sich, setzt sich an den Bühnenrand, ein Verlorener. Diese Verdichtungen wirken auch deshalb überwältigend, weil es viele lockere Passagen gibt. Die Erlösung Orests von den Erinnyen spielt Edgar Selge im Publikum. Die Zuschauer sind die Geister aus dem Totenreich, er klettert durchs Parkett, rennt nach draußen, taucht im Rang wieder auf. Das ist mehr als ein Inszenierungsgag.

    Den ganzen Abend über wird das Publikum direkt angesprochen, zum Mitdenken aufgefordert. Selge und Walser schaffen eine offene, sympathische, Atmosphäre. Das Publikum liebt sie dafür, folgt den knapp zwei pausenlosen Stunden mit großer Aufmerksamkeit, reagiert auf Pointen ebenso hörbar wie auf die emotionalen Szenen. Bei dieser "Iphigenie" braucht niemand Schwellenangst zu haben, der das Stück nicht kennt. Die diskursive Form verlangt nur Wachheit, Bereitschaft zum Mitdenken und Mitfühlen.

    Franziska Walser muss sich in diese Form des Spiels noch einfühlen. Sobald sie ihre Rolle verlässt, wirkt sie etwas unsicher. Aber Edgar Selge wirkt im ständigen Rollenwechsel ganz bei sich. Neugierig, fragend, ungeduldig treibt er den Abend voran, stets auf der Suche nach Impulsen und Gedanken. Was Walser, Selge und ihre Mitstreiter hier entwickelt haben, hat Zukunft. Theater, das den Laborgedanken ernst nimmt und dennoch Zauber entfacht, mit einer überzeugenden Dramaturgie aus Verdichtung und Improvisation. Und wenn Franziska Walser als Iphigenie das Zaudern als demokratische Tugend formuliert, braucht man keine Beispiele aus der Tagespolitik, um die Relevanz dieses Gedankens zu erkennen.