Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Familienroman mal anders

Zu einer jungen Generation von Autoren, die sich jüngst wieder mit dem Familiengenre beschäftigen, gehört Harriet Köhler, Jahrgang 1976. "Ostersonntag" ist das Debüt der in München lebenden Autorin. Sie beschreibt eine Familie, in der die Nestwärme schon lange ausgedient hat und stattdessen emotionaler Kleinkrieg herrscht.

Von Claudia Kramatschek | 18.06.2007
    Ostern steht vor der Tür - das Fest der Liebe und des Friedens. Für die Familie Bargfeld - Vater, Mutter, Tochter, Sohn - ist es wie jedes Jahr ein Pflichttermin und ein Muss, dass man den Ostersonntag zusammen verbringt, auch wenn man sich in dieser Familie schon lange nichts mehr zu sagen hat und jeder dem anderen aus dem Weg zu gehen versucht.

    Ulla und Heiner - er ein anerkannter Insektenforscher, der als angehender Akademiker die einstige Garderobiere in einer Nachtbar kennen lernte - haben sich schon lange auseinander gelebt. Er widmete seine Zeit der eigenen Karriere, sie lernte, was es heißt, eine Akademikergattin zu sein und wie man die Haute Cuisine buchstabiert. Seit kurzem jedoch ist Heiner pensioniert - und Tag für Tag versucht er hinter der morgendlichen Zeitung die grausame Wahrheit zu vertuschen, dass seine Welt sich in schleichender Demenz auflöst.

    "Du machst das absichtlich. Lässt Ulla glauben, du läsest die Meinungsseite. Breitest sie vor dir aus, als gälte es ein konzentriertes Gesicht zu verstecken oder eine gerunzelte Stirn. Dabei ist es viel ernster: Im Schutz der wissensgeschwärzten Seiten sitzt du da und stirbst."

    Ulla wiederum füllt die Leere ihrer Tage mit dem Kauf von Luxusartikeln an und mit heimlichen Affären, die ihr das Gefühl geben, trotz Falten und Brustkrebs noch immer attraktiv zu sein.

    "Vielleicht solltest du heute Nachmittag mal wieder Achim sehen. Vielleicht solltest du ins Café Roma gehen. Prosecco bestellen, in dem die Bläschen elegant aufgereiht nach oben steigen. Ihm zusehen, wie er den Gateau au Chocolat mit der Gabel zerlegt."

    Die Kinder - Linda ist 36, Ferdinand 28 Jahre alt - sind schon lange aus dem Haus. Berlin war ihr beider Fluchtpunkt, gerade weit weg genug vom elterlichen München. Doch in Berlin leben sie wie auf zwei getrennten Planeten - und haben doch gemeinsam, dass sie auf ihre Weise beide im Leben scheitern. Denn während Linda ihren Körper wie eine Maschine mit Drogen zu Hochleistung animiert und tagtäglich ihre Verachtung für die eigenen Erzeuger in Form von bissigen Zeitungskolumnen ausspeit, treibt Ferdinand als Langzeitstudent ziellos von einer Beziehung zur anderen, immer auf der Suche nach einer Geborgenheit, die er sich selbst nicht zu geben vermag.

    Das ist das so beklemmende wie bitterböse familiale Setting, das Harriet Köhler für ihren Roman "Ostersonntag" entwirft. Ein Roman, der in mehrfacher Hinsicht quasi literarisch variiert, was den Dogma-Film "Das Fest" so unvergessen macht: die erdrückende Aura von Schweigen und Verschweigen um des schönen Scheins willen, der doch schon lange verloren gegangen ist. Und wie im Film soll auch an diesem Ostersonntag endlich reiner Tisch gemacht und all das Ungesagte zur Sprache gebracht werden, welches ein Miteinander in dieser Familie vergiftet. Das zumindest beschließt Ferdinand, der endlich darüber reden will, was seit jenem Tag im Argen liegt, an dem die zweitgeborene Tochter der Familie - Friede ihr beredsamer Name - unerwartet Selbstmord begangen hat. Denn kurz vor besagtem Ostern hat Ferdinand über verschlungene Wege einen alten Brief seiner Schwester erhalten, den diese vor sieben Jahren, am Tag ihres Todes, an ihn adressiert hat.

    "Post. Du wirst unruhig, die Nacht kannst du dir abstempeln. Du weißt, welcher Brief das ist. Du hast dich immer nach der Wahrheit gesehnt, aber aus lauter Angst davor hast du nie, nie, nie nach den Gründen gefragt."

    In solch geschickt dosierten Andeutungen macht Köhler dabei allmählich klar, dass Friede - noch im Leben wie nun im Tod - das eigentliche, nunmehr abwesende Zentrum ist, um das sich das emotionale Nervengeflecht der verbliebenen Familie dreht und dass es seitdem nicht nur ein Geheimnis in der Familie gibt, sondern auch Schuld und Scham.

    "Mit Ausnahme von Ferdi hat keiner von euch Friede explizit geliebt - und trotzdem ist an dem Tag, an dem Friede gegangen ist, alles, was in deiner Familie so etwas wie Liebe hätte sein können, gestorben."

    Köhler arbeitet dabei mit quasi filmischen Mitteln, um dieser Familienneurose Ausdruck zu verleihen: Denn wie in einer Collage schneidet sie die vier Stimmen der einzelnen Familienmitglieder abwechselnd gegeneinander, jeder Monolog dabei das so entlarvende wie verständnisvolle Korrektiv zum emotionalen Egotrip der Anderen. Diese erzählerische Methode hat durchaus Drive, allemal da Köhler ihren Figuren eine je eigene Tonlage verleiht, die, obwohl zuweilen etwas zu dick aufgetragen, sprachlich durchgängig überzeugt: Ullas Verbitterung, nur schlecht kaschiert unter zotiger Lockerheit; Heiners leise Trauer; Lindas kaltschnäuzige Durchhaltementalität; Ferdinands innere Verlorenheit.

    Dennoch leidet dies Setting zuweilen an einer zu starken Statik, da Köhler ihre Figuren rein als Gegenspieler arrangiert, denen von Anfang an kein wirkliches Leben und vor allem kein Ausweg zugedacht scheint. Daran ändert auch nichts der eigentliche Höhepunkt des Romans, der ein Wendepunkt in dieser Familie sein könnte, aber keiner sein darf. Denn das Fest ist vorbei, und alles wird so sein wie zuvor. Von einer Familie wie dieser erhofft man fast nicht mehr. Dem Roman hätte man ein Ende mit etwas mehr Tiefenauslotung gewünscht. Nichtsdestotrotz bringt er frischen Wind in das altgediente Genre des Familienromans.


    Harriet Köhler: Ostersonntag
    Kiepenheuer & Witsch, 2007
    210 Seiten, 17,90 Euro