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Familienschicksale zwischen Libyen und Italien

Der neue Roman von Margaret Mazzantini erzählt vom Schicksal eines jungen Libyers und einer italienischen Familie im wechselvollen Verhältnis beider Länder, die das Meer trennt. Ihre Geschichten sind geprägt von politischen Unruhen, von Unterdrückung, Verschleppung und Verbannung.

Von Bettina Hesse | 03.12.2012
    Im Roman steht das Meer für alles, was es zu überwinden gilt, real wie symbolisch.
    Im Roman steht das Meer für alles, was es zu überwinden gilt, real wie symbolisch. (picture-alliance/ dpa)
    Es sind wenige Frauen, die politische Themen in ihr literarisches Schreiben einfließen lassen, umso erfreulicher ist es, wenn das überzeugend gelingt – so wie bei der italienischen Autorin Margaret Mazzantini. Nach ihrem großen Epos über die Liebe in Zeiten des Bosnienkriegs "Das schönste Wort der Welt", wendet sie sich nun erzählend einem anderen Land im Mittelmeerraum zu, Libyen. Ein Land, das von seinem ehemaligen Kolonialherren Italien durch das Meer verbunden ist, oder getrennt, je nach Blickwinkel – und die politischen Konflikte sind so alt wie aktuell.

    Zwei Geschichten erzählt der schmale Roman: Die von Jamila und ihrem kleinen Sohn Farid, dessen Vater 2011 brutal von Gaddafis Truppen ermordet wird, die daraufhin ihr Haus in einer der hintersten Sahara-Oasen verlässt und die Wüste durchquert, um in einem Schlepperboot übers Meer nach Italien zu gelangen. Übers Meer musste auch Farids Urgroßvater, mit seiner uralten Meerangst des Wüstenvolks, als die Italiener Anfang des 20. Jahrhunderts die Beduinen aus ihren Oasen vertrieben, einsperrten und auf italienische Inseln verbannten, wo er spurlos verschwand.

    "Jamila hat den Schlüssel genommen, ihn aus der Tür gerissen und eingesteckt. Sie laufen zwischen den rauchenden Häusern und Blocks entlang, huschen wie Ratten weiter. Der Krieg ist im Häuserblock nebenan, Leuchtspurgeschosse verbrennen den Himmel. Der Schlüssel fällt in den Staub. Die Mutter hebt ihn nicht auf.
    "Nicht so wichtig, Farid, wir haben keine Zeit."
    "Und wie kommt Papa ins Haus'"
    "Er wird einen Schlosser holen."
    Jamila hat ihm nicht gesagt, dass Omar ein in die Wüste gesunkener Engel ist."


    Der zweite Erzählstrang führt ins sizilianische Catania, wo Vito gerade Abitur gemacht hat und etwas unentschlossen seinen ersten freien Sommer verbringt. Auf der anderen Seite des Meeres herrscht Krieg. Vito kennt die Libysche Geschichte aus den Erzählungen seiner Mutter, Angelina. Sie ist in Tripolis aufgewachsen, war elf Jahre lang Araberin, und die Sehnsucht nach ihrem Geburtsland begleitet ihr Leben. Denn 1970 wurden die Italiener aus Tripolis ausgewiesen, um in ihrer Heimat wie unerwünschte Flüchtlinge behandelt zu werden. Es ist die Geschichte der zurückgekehrten Italiener, die im Veneto, in der Brianza Couscous essen und vergeblich auf eine würdige Behandlung oder wenigstens Anerkennung warten.

    "Nur das trieb sie um. Ihr Leben zurück an jenen Punkt zu bringen. An den Punkt, wo es abgerissen war.
    Es ging darum, zwei Landenden aneinanderzufügen, zwei Zeitenden.
    Dazwischen lag das Meer.
    Sie legte sich aufgeschnittene Feigen auf die Augen, um sich an diesen süßen, fleischigen Duft zu erinnern. Durch die Kerne hindurch sah sie rot. Sie suchte das Herz ihrer zurückgelassenen Welt."


    Vito sieht die Auffanglager am Strand, und obwohl er das Meer fast genauso liebt, wie seine Mutter es tut, geht er nicht schwimmen. Er spürt die schleichende Verseuchung: das "Meer am Morgen" ist nicht mehr erfrischender und weiter Freiraum, der Sehnsuchtsort, die Quelle aller Träume – es zeigt sein anderes Gesicht, so wie Jamila und Farid es vom überfüllten Schlepperboot aus sehen:

    "Das Meer ist eintönig, bietet so gar nichts Neues. Es anzuschauen ist ein Fehler, es ist, als würde man ein Tier ohne Kopf anschauen, mit unzähligen Buckeln, die sich heftig bewegen. Blaues Fleisch, das aus einem Unterwassermaul schäumt. Farid sucht den Kopf, der sich nicht zeigt, er kommt bis an die Oberfläche und verschwindet wieder.
    Vor kurzem hat ein junger Somalier auf die Wellen geschossen, um eine der Leuchtraketen auszuprobieren. Sie funktionieren nicht, sind genauso verrottet wie das Boot."


    Beide Familiengeschichten sind geprägt von politischen Unruhen, von Unterdrückung, Verschleppung und Verbannung. Die Gewaltherrschaft geht nicht nur von Libyen aus, um das 1959, durch die Entdeckung seiner Ölvorkommen, der nächste Krieg beginnt, sondern auch von Italien, und setzt die unselige Verbindung beider Länder fort.

    Im Roman steht das Meer für alles, was es zu überwinden gilt, real wie symbolisch. Übers Meer kommt 1938 die erste Auswanderungswelle von Italienern nach Libyen – an Mussolinis "vierte Küste". So auch Vitos Großmutter. Viele Italiener waren Juden und zeigten den Arabern ihre Kenntnisse in der Landwirtschaft. Bei Kriegsausbruch jagte man die Siedler 'nach Hause', und nach dem Krieg kehrten sie wieder zurück, auf überladenen Fischkuttern, zu ihren alten Feldern, oder aus Liebe, wie Vitos Großvater. Die Tripolitaner nahmen sie auf wie lang vermisste Brüder.

    An keiner Stelle berühren sich die beiden Erzählstränge – höchstens kann man ahnen, dass Vitos Fundstück am Strand, der Talisman ist, den Jamila ihrem Sohn gab. Die dramaturgische Verbindung liegt in den politischen Verhältnissen, in der Freude über Gaddafis Tod am Ende, aber vor allem im Meer, dem von den Wüstenbewohnern gefürchteten und für die Italiener großen Sehnsuchtsmotiv.

    In knappen Aussagen schildert Mazzantini die beiden Welten und ohne Vorwürfe: In der einen ist das unbekannte Meer ein sternenübersäter Paschamantel, wie Farid es sich vorstellt, und wird zum todbringenden Element, in dem seine Mutter hofft, länger durchzuhalten, damit ihr Sohn nicht alleine sterben muss. In der anderen kann die glitzernde Oberfläche nicht über die politische Ignoranz Italiens hinwegtäuschen, die Gleichgültigkeit gegenüber den vor Jahren aus Libyen Zurückgekehrten, ebenso wie gegenüber den heute aus Nordafrika Ankommenden.

    Kein Wort zu viel verliert die lyrische Sprache – sie ist blendend und auf das Wesentliche beschränkt – wie das Wüstenlicht.

    Margaret Mazzantini, Das Meer am Morgen.
    Roman, 128 Seiten, aus dem Italienischen von Karin Krieger
    DuMont Buchverlag, Köln, 2012, 16,99 Euro