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Fastenaktion
Die merkwürdige Schönheit der Lüge

"Mal ehrlich!" lautet das Fasten-Motto der evangelischen Kirche. Wer mitmacht, soll wenigstens bis Ostern ohne Lügen auskommen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen warnt davor, die Wahrheit absolut zu setzen. Es könne Situationen geben, in denen "Wahrheitsbeugung" moralisch geboten sei, sagte er im Dlf.

Bernhard Pörksen im Gespräch mit Benedikt Schulz | 06.03.2019
Bernhard Pörksen
Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (Bild: Peter-Andreas Hassiepen)
Benedikt Schulz: Nach Karneval für einige Zeit Verzicht zu üben, und zwar bis Ostern, das wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen – und erfreut sich trotzdem – oder vielleicht auch deswegen gewisser Beliebtheit heutzutage – es gibt vieles, auf das man verzichten kann – einzige Voraussetzung: es muss schwerfallen. Fällt es schwer die Wahrheit zu sagen? Ehrlich zu sein? Die evangelischen Kirchen in Deutschland starten diese Woche ihre Fastenaktion "Sieben Wochen ohne Lügen". Eigentlich klingt das ganz simpel – einfach die Wahrheit sagen, aber ist das so einfach – die Wahrheit zu sagen – wenn der Wahrheitsbegriff seit dem vergangenen Jahrhundert immer weiter, wenn nicht aufgeweicht, dann doch mindestens infrage gestellt wurde. Wer will schon sagen, was Wahrheit ist – wenn die Welt nicht gerade übersichtlicher wird.
Das ist auch für Journalisten eine Herausforderung, die Wahrheit zu sagen – geht das überhaupt, wenn journalistisch zu arbeiten nicht nur bedeutet, wahre Dinge zu sagen, sondern auszuwählen, was man sagt, und was nicht – ist Schweigen oder verschweigen nicht auch eine Lüge? Ich spreche über die Fastenaktion der evangelischen Kirche jetzt mit dem Medienwissenschaftler und Medientheoretiker Bernhard Pörksen – Hallo, ich grüße Sie, Herr Pörksen!
Bernhard Pörksen: Ich grüße Sie auch!
Schulz: Ja, fangen wir doch damit gleich an: Sagt man eigentlich die Wahrheit, wenn man eine Geschichte erzählt, in der man Dinge weggelassen hat?
Pörksen: Das kommt darauf an. Man kann Dinge weglassen, verschweigen, gezielt verschweigen, um zu täuschen. Dann sagt man nicht die Wahrheit und man kann aber auch sagen und konstertieren, dass man natürlich auswählen muss. Dass man natürlich nicht alles sagen kann, in einer Geschichte, sonst wäre die ja unendlich umfangreich. Also, wer scheibt, der wählt natürlich bestimmte Szenen, bestimmte Bilder, hat so seine Metaphern. Hat eine Handlungslogik, die er dann verfolgt und man muss auswählen und man kann nicht nicht auswählen, aber man kann gezielt verschweigen und sagt damit dann womöglich die Unwahrheit.
"Was hast du wirklich gedacht?"
Schulz: Den Unterschied macht gewissermaßen die Intention, die man damit verfolgt?
Pörksen: Das würde ich genau so sehen. Ja. Die merkwürdige Schönheit einer Lüge besteht ja darin, dass der Lügner weiß, dass er lügt, wenn er lügt. Man sagt etwas, was den eignen Wahrheits- und Gewissheitsüberzeugungen widerspricht. Dann macht man sich einer Lüge schuldig und im gewissen Sinne gilt dadurch, natürlich, man kann die Unwahrheit sagen, indem man weglässt, aber man muss denjenigen der dann diese Unwahrheit formuliert eigentlich befragen: Was hast du denn geglaubt, was hast du wirklich gedacht? Entsprach das deiner Vorstellung von Wahrheit oder eben auch nicht?
Praktische Ebene
Schulz: Lassen Sie uns mal etwas allgemeiner werden. Hat der Konstruktivismus die Lüge, wenn man so will, fast zu einer fast unpassenden Kategorie gemacht? Wer will denn schon noch sagen, was Lüge ist?
Pörksen: Nein. Ich weiß es nicht. Ich bin nicht der Auffassung, dass ein total konstruktivistischer Zweifel im Alltag so relevant ist, dass man nicht mehr von Wahrheit oder von Lüge sprechen kann. Das sind aus meiner Sicht ganz unterschiedliche Ebenen. Das sagen Akademiker natürlich immer, wenn es irgendwie schwierig wird. Aber die Ebene des erkenntnistheoretischen Fundamentalzweifels - und das sehen wir ganz klar, seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert wird der Begriff der Wahrheit angezweifelt, wird bezweifelt, ob wir als Menschen erkennende, wahrheitsfähige Wesen sind oder ob wir nicht vielmehr alle befangen sind in unserem Erkennen, aber es gibt ja auch eine ganz handfeste praktische Ebene dieser Wahrheitsfrage. Plausible, in unserer Lebenswirklichkeit in unserer Lebenswelt nachprüfbare, Gewissheit. Haben wir uns heute verabredet zum Interview oder morgen oder schon vorgestern? Das können wir relativ leicht feststellen. Einfach indem wir unseren Mailwechsel anschauen und dann können wir auch nicht beide Recht haben, sondern da ist gewissermaßen die Wahrheitsfrage in einem sehr pragmatischen, unmittelbaren Sinne entscheidbar.
Unbedingter Wahrheitsglaube?
Schulz: Was ist denn zum Beispiel mit einem wahrheitsgenerierenden Prinzip - nenne ich das jetzt einfach - wie der päpstlichen Unfehlbarkeit. Da entsteht Wahrheit sozusagen durch den kommunikativen Akt: Was ich sage, stimmt, weil ich es sage. Ist das legitim?
Pörksen: Ich persönlich würde sagen, dass diese Form von Wahrheitsanspruch mir vollkommen altmodisch erscheint. Ich muss das leider so sagen. Und den Unfehlbarkeitsgedanken, es ist eine Person, die unmittelbar die Wahrheit spricht. Das setzt einen Glaubensakt und eine Glaubensgewissheit voraus, die mir, das muss ich so klar bekennen, fremd ist. Und noch etwas: der absolute Wahrheitsglauben, der Unfehlbarkeitsgedanke in einem emphatischen Sinne, kann ja durchaus auch schwierig und problematisch sein für das menschliche Miteinander und das erleben wir auch in unserem Alltag.Unabhängig von der päpstlichen Unfehlbarkeitsidee.
Wenn jemand einen unbedingten Wahrheitsglauben vertritt, dann ist das ja oft ein Katalysator, der erst Konflikte so richtig hochkommen lässt. Einen mehr oder minder gleichberechtigten Austausch in eine Art Begradigungs- oder Bekehrungsgespräch verwandelt. Der andere, mit dem man da redet, der weiß ja mit unbedingter Gewissheit, was stimmt und was richtig ist und der, der das nicht kapiert, der ist vielleicht böswillig, ideologisch, verblendet, dumm oder was auch immer.
Schulz: Das heißt, an einem Erkenntnisinteresse, einem Interesse an der Wahrheit, gehört auch immer ein bisschen Zweifel dazu.
Pörksen: Ich glaube ja, das ist zumindest die gute wissenschaftliche Tugend. Natürlich gilt es, Gewissheiten zu suchen, aber sie doch mit einer Haltung zu begreifen und sich ihnen zu nähern, es könnte potenziell auch anders sein. Und dass, alles, was man sagt, ist gleichzeitig unvermeidlich, endgültig, vorläufig. Vielleicht werden morgen, übermorgen oder auch erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten, Menschen schon ganz anders über diese Zusammenhänge denken, die man jetzt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als wahr erkannt zu haben glaubt.
Die Wahrheitsbeugung
Schulz: Gehen wir jetzt mal auf die Fastenzeit zurück. Ist denn Lügen ungefähr so schlimm wie - ich sag jetzt mal - Schokolade essen oder rauchen?
Pörksen: Na gut, also ich würde sagen, lügen kommt vor. Es gibt diese Vorstellung, man soll nicht lügen. Das ist auch als Idealvorstellung ganz gewiss sehr sinnvoll, aber ich wäre auch in diesem Punkt nicht ganz so absolut. Also es kann ja durchaus situativ geboten sein, auch mal zu lügen. Sei es aus Gründen der Höflichkeit, wie gefällt Ihnen mein neues Hemd?, und sie begehen eine kleine Wahrheitsbeugung einfach im Sinne der sozialen Erleichterung, weil Sie nun den Pörksen mit seinem neuen Hemd nicht kränken wollen, aber auch ein Journalist - Sie haben vorhin den Journalismus erwähnt -, der nun recherchiert und der in gewissem Maßen investigativ nur was herausbekommen kann, indem er womöglich sich eine Identität gibt, also lügt.
Also das Credo, dem ich da folgen würde, und das macht alles schwieriger, wir reden da über Dilemmata, wir reden über Abwägungsprozesse, dem Credo, dem ich da folgen würde: es kommt darauf an. Es ist wichtig, sich klazumachen, dass man idealerweise nicht lügt, dass man idealerweise das sagt, was man wirklich glaubt und denkt, aber es kann Situationen geben, in denen es auch moralisch geboten ist, nicht die Wahrheit zu sagen.
Schulz: Die Fastenzeit beginnt jetzt. Könnten Sie sieben Wochen lang auf das Lügen verzichten? Und ich schiebe noch die zweite Frage hinterher: wenn Sie jetzt ja sagen, woher weiß ich, dass Sie die Wahrheit sagen?
Pörksen: Das können Sie glücklicherweise nicht wissen. Da müssten Sie dann in meinen Kopf hineinblicken. Also ich kann völlig bedenkenlos ja sagen. Ich kann unbedingt auf die Lüge verzichten. Und wer weiß, ob das schon eine Lüge ist. Also ich glaube, an dieser Stelle muss gewissermaßen das Gespräch enden und - jetzt werde ich wieder ernst - es beginnt die Introspektion, denn nur der Lügner weiß, ob das, was er gesagt hat, in seinem Sinne eine Lüge ist oder ob er womöglich daran geglaubt hat.
Schulz: Sieben Wochen ohne Lügen, Fastenaktion der evangelischen Kirchen in Deutschland und darüber und ein bisschen mehr noch, nämlich Wahrheit im allgemeinn und Lüge im allgemeinen, habe ich gesprochen mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Herr Pörksen, vielen herzlichen Dank!
Pörksen: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.