Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Fastenzeit
Tugendcoaching statt Askese

Askese sei schrecklich, sagt der Würzburger Theologe Klaas Huizing, Verzicht auf gutes Essen sei ein Ergebnis der "Sündenverbiesterung". Aber Tugenderziehung findet er angebracht, gerade zur Fastenzeit. Die Kirchen sollten sich nicht scheuen, als Moralagenturen aufzutreten.

Klaas Huizing im Gespräch mit Christiane Florin | 14.02.2018
    "Die sieben Todsünden" von Hieronymus Bosch
    "Die sieben Todsünden" von Hieronymus Bosch (dpa / pa / Moya)
    Christiane Florin: Vielleicht sind manche von Ihnen heute von den Glocken wachgeworden, die zum Aschermittwochsgottesdienst läuten. Vielleicht hat aber auch der Mixer Krach geschlagen, mit dem die Nachbarin jeden Morgen ihren Gemüsesaft zubereitet. Entschlacken, Detox genannt, hat immer Saison. Für Christen aber beginnt heute eine besondere Zeit, die Fastenzeit. Gut 7 Wochen der inneren Einkehr, nicht zufällig nach den sündigen Karnevalstagen.
    '"Schluss mit der Sünde!", fordert der evangelische Theologe Klaas Huizing und das nicht nur zu Fastenzeit. Huizing lehrt Systematische Theologie in Würzburg. Ich habe ihn vor der Sendung interviewt. Und damit wir richtig Schluss machen können, habe ich ihn am Anfang gefragt, was Sünde ist.
    Klaas Huizing: Ja, Frau Florin, Sünde ist ein Container-Begriff, da wird vieles drunter verstanden. Ich würde sagen: Zunächst einmal ist es eine moralische Keule. Also in meiner Jugend war es so: Der Käse konnte schon vor Müdigkeit schwitzen und erschöpft die Kanten nach oben klappen - meine Oma sagte: Wegschmeißen ist Sünde, das geht nicht.
    Die Erbsünde - "eine perfide Idee"
    Florin: Ihre calvinistische Oma?
    Huizing: Das war meine calvinistische Oma, ich bin von Hause aus holländisch reformiert. Und meine Schwiegereltern mussten mehrere Wochen auf einem Sündenbänkchen in der Kirche sitzen, weil sie es gewagt hatten schwanger gewissenmaßen - meine Schwiegermutter war mit meiner Frau schwanger - zur Kirche zu kommen, um zu heiraten. Sie hatten sichtbar Sex vor der Ehe gehabt, das war auch Sünde. Das ist die eine Schicht. Die andere Schicht ist die berühmte Frage nach der Sünde, die sich ununterbrochen weitervererbt, die sogenannte Erbsünde. Die Erbsünde ist eine doch perfide Idee, um zu sagen: Jeder Mensch ist sündig, und wir brauchen eine Theorie, die uns das irgendwie erklärbar macht. Und eine dritte Ebene ist im Grunde genommen: Versteht man sich selbst als Sünder? Da muss ich, wenn ich auf mich selbst schaue sagen: in der Regel eher nicht. Denn Sünder sein, das ist, wenn es überhaupt Sinn macht, diese Vokabel zu gebrauchen, wirklich so etwas wie Aufstand gegen Gott, aber das machen wir im Alltag doch nicht. Wir sind ja froh, wenn wir morgens überhaupt aus dem Bett kommen.
    Florin: Wer ist für das Sündenbewusstsein heute zuständig?
    Huizing: Für dieses Sündenbewusstsein ist traditionell natürlich die Kirche selbst zuständig. Aber auch deren Vertreter und auch die wissenschaftliche Theologie tun sich mit dem Begriff wahnsinnig schwer. Er wird immer neu interpretiert, und dann haben sie irgendwann das Problem, dass die Neuinterpretation gar nicht mehr beim Gros der Bevölkerung ankommen und sich immer mehr eine Art babylonischer Sprachverwirrung breit macht. Deshalb bin ich dafür: Wir sollten Diät halten, Askese halten hinsichtlich des Sündenbegriffs. Denn die biblischen Texte sind ziemlich eindeutig. Sie sind realistischer, als der Sündenbegriff vermuten lässt. Sie wissen, dass Menschen fehlbar sind, wer würde das bestreiten? Aber sie sind doch optimistisch, dass man das Leben durchaus auch gut in den Griff kriegen kann, wenn man sich Mühe gibt.
    Der Schrifsteller und Theologe Klaas Huizing schaut in die Kamera
    Der Schrifsteller und Theologe Klaas Huizing (privat)
    Die Frage nach dem glücklichen Leben zuständig
    Florin: Aber wenn sie den Kirchen, also der evangelischen wie der katholischen, das Sündenmanagement wegnehmen, was bleibt noch zu tun für die Kirchen?
    Huizing: Es bleibt schon die Frage, wie überhaupt glückliches Leben möglich ist. Und was kann die Theologie da leisten? Also da würde ich immer sagen: Die Theologie kann jenseits aller Sündenverdrießlichkeit und des Sündenbashings leisten, dass man unter Umständen die Menschen dazu ermuntert, auf Fehlformen unserer Gesellschaft etwas achtsamer aufzupassen. Also den Konsumismus und der Selbstdarstellung versucht zu entgehen. Religion kann eine sehr viel stärkere Selbstdistanzierung möglich machen durch die wirklich sehr entlastende Idee, dass man sagt: Da ist ein Gott, der einen liebt. Es ist nicht ganz so wichtig, ob man in der Gesellschaft immer ganz vorne steht.
    Florin: Konsumkritik kriege ich doch auch bei Attac.
    Huizing: Die kriegen Sie auch bei Attac. Die Frage ist: Kann Attac ein Diskurs führen, um Leute so zu überzeugen, dass sie ihr Leben sehr stark ändern und eine Art Selbstdistanzierung zu Wege bekommen? Ich glaube, dafür brauchen sie bestimmte Lebensdeutungs-Muster. Ein Lebensdeutungsmuster heißt: Da gibt es eine Instanz, eine Intuition, die behauptet, dass man angenommen ist, ganz egal, was man macht. Das befreit dann auch dazu, dass man immer das eigene Leben nur aus sich selbst heraus leisten und zu einem glücklichen Ende führen muss.
    Florin: Nun würde ich aber, in Kenntnis vieler evangelischer und katholischer Predigten, nicht sagen, dass es den Kirchen an Konsumkritik mangelt. Das ist doch das gängige Predigtmuster: "Kauft euch nicht jedes neue Handy, denkt an die Inseln, denen wegen des Klimawandels bald das Wasser bis zum Hals steht." Da ist doch eigentlich mehr vom Klima als von Gott die Rede.
    Huizing: Ja, das schon richtig. Aber man muss dann immer sehen: Für diese Angebote oder die Imperative, die daraus erwachsen - dass man sagt: "Lass das mal mit dem Handy us.w und versuch nicht ununterbrochen zehn Stunden im Netz unterwegs zu sein und du nur darauf erpicht bist, dass du noch mehr Follower bekommst" - braucht man bestimmte Narrative. Also Lebensdeutungsgeschichten, die einem eine Sicht möglich machen, dass man nicht selbst der Star des Abendlandes ist.
    "Biblische Texte leisten Emotionscoaching"
    Florin: Sie beklagen in ihrem Buch die "Sündenverbiesterung" des Protestantimus. Worin besteht die jetzt noch?
    Huizing: Die Verbiesterung ist immer noch insofern gegeben, als der Sündenbegriff dafür eingesetzt wird, die Anthropologie einzuschwärzen. Es ist doch im Endeffekt eine pessimistische Anthropologie. Ich will jetzt auch nicht behaupten, dass viel Anlass dafür besteht, die Anthropologie, also die Lehre vom Menschen, so weiß wie möglich zu malen, sondern realistisch. Wenn man noch einmal fragt, was Religion leistet, dann würde ich immer sagen: Religion kann sehr gut erklärbar machen, wie Gewalt entsteht, indem wir eines der kompliziertesten, aber leider offenbar im Menschen noch tief verankerten Agressivitätspotentiale, den Neid und damit vergleichbar die Eifersucht, in den Griff bekommen. Emotionscoaching ist etwas, was bibliche Texte ganz wunderbar leisten können.
    Florin: Also, der Mensch ist an sich gut, aber er ist gefährdet. Das wäre ihnen lieber als: Der Mensch ist ein Sünder.
    Huizing: Ja, das ist ja schon eine deutliche Aufhellung, Frau Florin, wenn man sagt: Es ist nicht bitterschwarz, sondern es ist eher eine gefährdete Existenz. Das ist ja auch so. Wir sind zum Teil ja auch von Emotionen herumgeworfen, gerade auch die genannte Emotion Neid ist sowas, was ganze Gesellschaften und Familien ruinieren kann. Es ist sehr klug, wenn man Geschichten hat, die einem vor Augen führen, wie man klug mit Neid umgehen muss und was die Konsequenzen eines neiderfüllten oder eifersüchtigen Lebens wirklich sind.
    Florin: "Wir sind alle kleine Sünderlein, 's war immer so", das ist ein rheinisch katholisches Lied, es wird im Karneval nicht mehr ganz so häufig gesungen, aber man kennt es noch. Das ist aber eher tröstlich als verbiestert, wenn man weiß: Wir sind alle Sünderlein, es war immer so, es wird sich wahrscheinlich nie ändern. Das entlastet doch auch.
    Ärger mit der Schwiegermutter
    Huizing: Ich habe, um meine Schwiegermutter zu ärgern, auf meiner Hochzeit genau dieses Lied spielen lassen, sie war anschließend not amused. Das ist eine Entlastungsstrategie. Man kann sich ja auch auf diese Position zurückziehen, wir seien alle Sünder, also Schwamm drüber und das ist eine Gleichheit auf unterstem Level, ist im Grunde genommen eine wirklich billige Bequemlichkeit.
    Florin: Da ist diese Konzept "gut, aber gefährdet" anspruchsvoller.
    Huizing: Ja leider ist das Leben nicht ganz ohne Anspruch zu bekommen. Es ist einfach so, es gibt sehr sehr viele emotionale Fallen, wo wir doch auch gerne einmal darauf eingehen. Da bedarf es schon einer Education sentimentale, einer Gefühlsschulung. Es ist klug, wenn wir eine gute Balance hinsichtlich der Emotionen hinbekommen. Die Theologie ist auch gut beraten, nicht immer sofort auf Liebe zu schielen. Das ist ein Begriff, der so wahnsinnig abgenutzt ist.
    Florin: Was meinen Sie damit?
    Huizing: Dass man immer sagt: Gott ist die Liebe usw. Das ist dann das kürzeste Evangelium,
    Florin: Dann sind alle still sind vor lauter Ehrfurcht.
    "Scham ist eine wichtige Emotion"
    Huizing: Ja, sondern das man wirklich einmal genau in die biblischen Texte hineinschaut und dann sieht man: Da wird mit Beschämung gearbeitet. Scham ist eine sehr wichtige Emotion. Emotionen wie die Scham zielen auf den Charakter, um den Charakter zu ändern. In der Theologie müssen wir, glaube ich, wieder viel stärker auf Emotionen achten.
    Florin: Früher wurde am Aschermittwoch in der Liturgie die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies regelrecht nachgespielt. Was erzählt diese Geschichte vom Paradies Ihrer Ansicht nach wirklich?
    Huizing: Sie erzählt wirklich ein Erwachsenwerden des Personals, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Mir ist ganz wichtig immer wieder zu sagen, dass in dieser Geschichte von "Sünde" nie die Rede ist. Sünde taucht zum ersten Mal in der Kain-und-Abel-Geschichte auf. Es hat bestimmte Interessen gegeben in der Dogmatik, dort bereits die Sünde zu verorten, um dann wieder ein komplett pessimistisches Menschenbild aufzubauen, um zu sagen: Dort ging es schon los. Die Sache ist wirklich anders. In der Geschichte von Kain und Abel ist es so, dass Gott, der in der Geschichte selbst auftritt, den Kain coacht. Das misslingt zwar, aber die Tendenz ist doch: Hättest du deinen Neid in den Griff bekommen, dann wäre es mit deinem Leben gut ausgegangen. Vor dir steht die Sünde gewissermaßen vor der Tür. Das ist im Grunde genommen ein Verweis darauf, dass, wenn man neidisch agiert, die Gesellschaft ruiniert wird, die Familie ruiniert wird. Das musst du in den Griff bekommen.
    Sie können sagen: Gott nötigt Kain auf, eine preußische Beschwerdeordnung einzuhalten, einmal eine Nacht darüber schlafen. Das tut Kain nicht, sondern die Passivität der Emotion Scham, die ja wirklich sehr schrecklich ist, findet bei ihm ein Ventil, indem er die Scham in die Schuld verschiebt, also wieder aktiv wird. Kain schlägt lieber zu, als sich zu ändern. Das ist ja eine spannende Geschichte, dass man sagen muss. Da wird am Negativbeispiel deutlich gemacht, wie man in bestimmten Situationen nicht richtig agiert, sondern wenn die Scham in moralischen Kontexten auftritt, ist es wichtig, sich unter Umständen zu ändern und auch Tugenden auszubilden. Tugenden sind wichtig, damit man in Krisensituationen möglichst kompetent agieren kann.
    Zwischen Handlung und Person unterscheiden
    Florin: Und die Strafe besteht in der der Scham, im Kainsmal.
    Hiuizing: Ja, aber auch das ist natürlich eine wunderbare Pointe. Schauen Sie: Die Geschichte hört nicht auf mit dem Totschlag oder mit der Ermordung des Bruders, sondern Gott macht ihm so eine Art Tattoo auf den Kopf und schützt ihn damit vor Rache. Wenn man sich die Geschichte dann klar vor Augen hält, ist damit gesagt: Es gibt eine Differenz zwischen den Handlungen eines Menschen, Mörder, und seiner Person, seiner Würde, seinem Personenkern oder wie wir das auch immer beschreiben wollen. Die Rache muss unterbunden werden durch dieses Kainsmal, sonst geht die Gewalt weiter. In dieser Geschichte ist bereits die Idee der Rechtfertigungslehre, die der Protestantismus erst mit Luther entdeckt hat, angelegt, nämlich zu sagen: Wir müssen einen Unterschied aufmachen zwischen den Handlungen eines Menschen und seiner Person, die grundsätzlich von Gott geliebt wird.
    Florin: Wird das noch verstanden?
    Huizing: Wenn man es so interpretiert, hat man gute Chancen, dass die Menschen verstehen, dass wir nicht auf unsere Handlungen reduziert werden, sondern dass die Idee ist: Da ist eine Person, die unabhängig von ihren Handlungen geliebt wird.
    Florin: Jetzt beginnt die Fastenzeit, die evangelische Kirche macht jedes Jahr die Aktion "Sieben Wochen ohne". In diesem Jahr "Sieben Wochen ohne Kneifen", es geht um Zivilcourage. Da schwingt für mich genau diese Werkgerechtigkeit, die Luther ablehnt.
    Tugendtraining statt Askese
    Huizing: Das mit der Werkgerechtigkeit ist, glaube ich, ein etwas überdetaminierter Begriff. Ich finde das durchaus positiv, dass man ein Motto nimmt für diese Zeit, um da auch für eine Art Tugendcoaching durchzuführen. In dieser Frage ist es wirklich ausgesprochen positiv und würde es immer auch unterstützen. Grundsätzlich bin ich als holländisch reformierter Christ, der 20 Jahre im strengen calvinistischen Elternhaus gelebt hat, askesemüde. 20 Jahre Askese ist genug, aber diese Form, die vor allen Dingen das Luthertum gerade macht, finde ich prima, wenn man versucht, auf diesem Wege eine Art indirekte Tugendausbildung zu machen. Dann halte ich das für einen sehr gelungenen Weg.
    Florin: Was haben sie gegen Askese?
    Huizing: Mein ganzes Leben war Askese. Der holländische Calvinismus ist Askese. Wir durften sonntags nicht ins Freibad, keine Karten spielen. Ich musste irgendwann meine Karriere als Handballtorwart in der B-Jugend aufgeben, weil dann an den Sonntagen die Spiele stattfanden. Das war mit der Sonntagsheiligung nicht in Einklang zu bringen. Das war Askese genug.
    Florin: Beide Kirchen, die evangelische zumal, versuchen mit solchen Aktionen auch so etwas wie ein Stachel im Fleisch zu sein. Es soll aus der Reihe fallen, es soll auffallen. Wie kann man Stachel im Fleisch sein in einer Gesellschaft, in der so viele Veganer sein wollen? Ist das nicht Mainstream?
    Huizing: Ja, das ist auch inzwischen Mainstream. Ich finde sehr richtig, dass sie (die Evangelische Kirche) auf Tugendcoaching umgestiegen ist, weil das für eine Zivilgesellschaft ganz wichtig ist. Wenn man in einer Zivilgesellschaft wirklich die gesellschaftlich stärkenden Elemente heraushebt und nicht das Privatevangelium eines Veganers oder eines anderen, welcher Prominenz auch immer, stark macht. Ich würde immer auch positiv sagen: Kirche ist, wenn man richtig interpretiert, durchaus eine Moralagentur. Ja klar, warum nicht? Wir haben es mit Moralität zu tun und ich würde immer sagen: Von der Idee her ist die Ethik des Christentums, ich meine damit auch die Ethik des Alten Testaments, eine ausgesprochen lebensfreundliche Ethik.
    "Theologen sind die Kitschnudeln des Kulturbetriebs"
    Florin: Wenn Jesus Coach ist oder Weisheitslehrer, was bleibt dann von Gottessohn, vom Erlöser, vom gekreuzigten, der für die Sünden gestorben ist?
    Huizing: Das sind Modelle, die momentan zur Diskussion stehen, wie man damit umgeht. Denken Sie daran: In den biblischen Texten kommt am häufigsten die Zuschreibung raus: Jesus war Lehrer. Und zwar mit riesengroßem Abstand. Das ist zunächst einmal ein Hinweis darauf, wie er auch in den biblischen Texten zunächst wirklich wahrgenommen worden ist. Von dort sollte man Jesus zunächst einmal in den Blick bringen und von dort her auch die Frage nach Heil stellen. Die Idee, dass er für unsere Sünden gestorben ist - ich wüsste keinen meiner Kollegen, der diese Idee so noch favorisieren würde. Schuld ist, dass wissen wir nun seit Kant, etwas, das an die erste Person singular gebunden ist, und das kann man auch nicht für Dritte wegnehmen. Dieses Modell ist Denken des 14., 15. (Jahrhunderts), ein dann aber sehr lange sich durchhaltendendes Denkmodell, was aber heute wenig Zustimmung erheischt.
    Florin: Muss man Christ sein, um Jesus als Weisheitslehrer anzunehmen oder für sich nutzbar zu machen?
    Huizing: Nein, das müssen Sie nicht notorisch. Aber ich bin immer so überzeugt von den Kräften biblischer Texte, von den Kräften biblischer Literatur. So dass ich immer denke: Die Kräfte sind wirklich so stark, die Gleichnisse Jesu haben einen so unheimlich großen Charme, dass da durchaus die Chance besteht, dass man ein Anhänger im besten Sinne des Wortes wird. Ich kenne im Grunde genommen keine andere Literatur, die auf engstem Raum so etwas wie eine Weisheitsschulung voranbringt und dann immer auch noch unterfüttert mit dem Gedanken, dass es gut ausgeht. Die biblische Literatur ist wirklich dadurch ausgezeichnet, dass man sagt: Es ist ein Leben, ein schwieriges Leben, aber es ist eben nicht ein tragisches Leben. Biblische Geschichten sind tragik-kritisch, sie wollen, dass es gut ausgeht. Sie können auch sagen: Wir Theologen sind im Grunde genommen die Kitschnudeln des Kulturbetriebes.
    Florin: Die biblischen Geschichten kann ich in meinem stillen Kämmerlein lesen, die kann ich individuell lesen. Da brauche ich keine Institution, die mir die deutet oder vermittelt.
    Huizing: Ja, das ist für einen Protestanten überhaupt kein Problem…
    Florin: Aber Sie haben nun mal die Institution, auch wenn Sie so tun, als hätten sie die nicht. Die Institution ist nicht ganz einflusslos…
    Huizing: Nein, es ist auch gut so, dass es solch eine Institution gibt, aber vom Verständnis des Protestanden ist es so das sie es in der Tat auch, wenn sie es denn können, im eigenen Kämmerlein machen. Es gibt ein Christentum auch außerhalb der Kirche, seit dem Theologen Semler. Das kann im Grunde genommen nur der Protestantismus, wenn ich das mal sehr selbstbewusst sagen darf, weil unserer Kirche kein Heilsinstitut ist.
    "Zehn Jahre Feier, das hält ja kaum einer durch"
    Florin: Nach dem Reformationstag 2017, also nach dem Ende der Feierdekade, ist es tatsächlich still geworden um den Protestantismus und die evangelische Kirche in Deutschland. Was bleibt von diesem Jahrzehnt?
    Huizing: Tja, Frau Florin, Sie müssen erst mal denken: 10 Jahre Feier, das hält ja kaum einer im Karneval drei Tage durch….
    Florin: …wenn es so ausfällt, so besinnlich, wie in den 10 Jahren Reformationsdekade, da hält man das schon durch…
    Huizing: Dann ist ja schon eine sehr sehr lange Phase. Ich glaube, momentan sind alle in Fortbildung noch mal gegangen, um über diese 10 Jahre nachzudenken. Das ist auch normal, dass da erst einmal ein großes Loch kommt, wie nach einer Geburt. Da muss man sich erst mal neu wieder finden, da muss man erst mal gucken, wie man jetzt weiter verfährt. Ich fände es aber schon prima, wenn dass ein Ergebnis wäre, dass zum Beispiel in Niedersachsen und Schleswig-Holstein und Hamburg, vielleicht sogar in Berlin, der Reformationstag ein wirklicher Feiertag wird. Dann würde ich sagen, haben sich die 10 Jahre allemal gelohnt, denn dann hat man wirklich eine Erinnerungskultur an eine wichtige Figur der Geistesgeschichte auch institutionalisiert.
    Florin: Haben Sie nicht Angst, dass es dann nur noch Erinnerung ist und keine Glaubespraxis?
    Huizing: Da bin ich nicht ganz so skeptisch. Wenn es uns gelingt, wirklich die grandiose Kraft biblischer Erzählungen immer wieder deutlich zu machen und das ist auch der wirklich nicht einfache Job heutzutage eines Predigers, manchmal auch in der Wüste, wenn uns das gelingt, was wir da für ein Pfund haben mit diesem Buch, dann ist mir nicht ganz Angst und Bange.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.