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Fasziniert vom Geheimnisvollen

Kriminalromane mit metaphysischen Elementen, die Geschichten angesiedelt im Breslau der 30er-Jahre - mit diesem Konzept gelang dem polnischen Autor Marek Krajewski seine Erfolgsreihe rund um den deutschen Ermittler Eberhard Mock. Mit seiner exzentrischen Art tritt er mittlerweile im fünften Band auf.

Von Marta Kijowska | 09.12.2009
    "Weltende in Breslau", "Gespenster in Breslau", "Festung Breslau" und nun "Pest in Breslau" – Marek Krajewski mag Titel, die eine starke Signalwirkung haben. Das Publikum soll sofort erkennen, dass es sich bei seinen Büchern um eine kleine Rarität handelt: um einen polnischen Autor, der das deutsche Breslau heraufbeschwört. Als er es vor zehn Jahren zum ersten Mal tat, kam er damit einer aktuellen Tendenz entgegen: Ende der 90er-Jahre erreichte nämlich die Enttabuisierung der Geschichte Breslaus ihren neuen Höhepunkt. Allerdings hatte Krajewski schon als Kind angefangen, sich für die Vergangenheit seiner Geburtsstadt zu interessieren.

    "Es war nur die Neugier eines kleinen Jungen, aber sie wuchs ständig. Etwa während der Spaziergänge mit meinem Vater, bei denen ich an den Kanalisationsbrunnen Namen deutscher Firmen entdeckte. Oder als an meinem Geburtshaus der Putz abfiel und drunter die Aufschrift 'Obst und Gemüse' erschien. Ich fragte mich immer öfter: In was für einer Stadt lebe ich eigentlich? Ich hatte ein immer größeres Chaos im Kopf und beschloss, dieses Chaos zu ordnen. Also fing ich an, mich für die Vergangenheit Breslaus zu interessieren. Ich kaufte mir in einem Antiquariat für viel Geld, das ich von meinem Vater bekam, einen alten, deutschen Stadtplan von Breslau. Was für ein Vergnügen war das, polnische und deutsche Straßennamen zu vergleichen! Was für eine Entdeckung, plötzlich zu erfahren, dass meine Straße früher nach Martin Opitz benannt war! Wer war Opitz, wollte ich wissen und schaute in der Enzyklopädie nach. So sah mein Bildungsweg aus: von den Kanalisationsbrunnen und deutschen Aufschriften bis zur deutschen Kultur."

    Mittlerweile ist Krajewski ein richtiger Kenner des alten Breslau geworden, doch das ist noch nicht alles – in seinen Krimis zeichnet er ein Bild der Stadt, das es bis jetzt nicht einmal in der deutschen Literatur gegeben hat. In seinem Breslau wimmelt es von diversen Gaunern, Spekulanten, Fanatikern und Sadisten, die unentwegt ihr dunkles Spiel treiben. Politische Intrigen, Sexskandale, Alkoholexzesse, geheime Sekten: All das vermischt sich zu einer düsteren, geheimnisvollen Atmosphäre, in der ein Mord wie die natürliche Konsequenz des allgemeinen Verfalls wirkt.

    "Mich hat schon immer alles Geheimnisvolle fasziniert. Selbst als Kind hatte ich eine Schwäche für Romane und Filme, die etwas Rätselhaftes, Unheimliches, Horrorartiges an sich hatten. Doch ich las auch von Kind an Kriminalromane. Die Bücher von Raymond Chandler zum Beispiel verschlang ich schon als Zehnjähriger. Ich las sie natürlich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke, denn meine Eltern erlaubten mir nicht, nachts zu lesen, damit ich am nächsten Tag den Gang zur Schule nicht verschlief. Chandler ist aber trotzdem mein literarischer Meister geworden. Sehen Sie sich nur seine Welt an – diese besondere Welt Kaliforniens, die scheinbar bunt und idyllisch und in Wirklichkeit tief degeneriert ist. Ich liebe also das Geheimnis, die Dunkelheit, ich mag keine Happyends, mir gefällt es, wenn ein Buch traurig ausgeht beziehungsweise ein Ende hat, mit dem man nicht unbedingt zufrieden ist. So haben mich eben meine literarischen und filmischen Vorbilder geformt."

    Diese Einflüsse sind auch stark seinem neuen Buch anzumerken. "Pest in Breslau" spielt in den Jahren 1923/24, und die Handlung setzt, wie immer bei Krajewski, mit einem grausamen Mord an: Zwei Prostituierte werden brutal erdrosselt und anschließend um Teile ihrer Vorderzähne gebracht. Als auch diesmal Eberhard Mock mit den Ermittlungen betraut wird, glaubt man, den Ausgang der Geschichte zu kennen. Doch man täuscht sich: Es folgen weitere Morde, die immer öfter auf Mock als Täter hindeuten, zumal er sich kurz nach dem Tod der Mädchen in einer zweideutigen, ihm selbst unverständlichen Situation wiederfindet.

    "Mock setzte sich auf und öffnete die Augen. Er saß nackt und von Schweiß bedeckt auf einer Waldlichtung. Um seine Schultern lag irgendein alter Stoff. Die Morgensonne brannte auf ihn herab. Er spürte ein Zwicken am Ohr, fluchte und zerdrückte mit dem Daumen ein Insekt. Dann hob er den Finger an die Augen, um zu sehen, was ihn die ganze Zeit so gekitzelt hatte. Doch es war nicht die rote Ameise, die ihn entsetzte. Es war die rosa Farbe, die seine Hand bedeckte. Er sah auf sein Bein hinunter. Seine Finger, mit denen er versucht hatte, in die nicht existierende Hosentasche einzudringen, hatten fünf längliche Spuren hinterlassen."

    Es sind eben seine Fingerabdrücke, die Mock zum Erpressungsobjekt eines, wie sich herausstellt, hohen Beamten des Polizeipräsidiums machen. Und da es auch sonst keine klaren Grenzen zwischen Verbrechern und ehrlichen Bürgern gibt, dauert es diesmal etwas länger, bis der Fall aufgeklärt ist.

    Nach dem Erscheinungsdatum ist Pest in Breslau der fünfte, nach der inneren Chronologie aber der zweite Teil der Reihe, deshalb hat Mock hier nur den Rang eines Oberwachtmeisters. Erst zum Schluss, als er das Rätsel gelöst hat, wird er zum Kriminalrat befördert. Sonst aber ist er genauso derb, exzentrisch und gerissen wie in den anderen Bänden.

    "Mock ist eine Gestalt, der ich einige meiner eigenen Charakterzüge verliehen habe und die gleichzeitig auch verschiedenen Figuren aus Literatur und Film nachempfunden ist. Manchmal ist Mock zynisch – darin ähnelt er Philip Marlowe aus den Krimis von Chandler. Manchmal ist er brutal, was wiederum eine Eigenschaft der Polizisten aus den schwarzen Krimis des französischen 'Film noir' ist. Ich denke dabei an so berühmte Titel wie Jean-Pierre Melvilles 'Vier im roten Kreis' oder 'Der eiskalte Engel'. Ich liebe die Atmosphäre dieser Filme. Die leeren Straßen von Paris, durch die sich eine einsame Männergestalt in Trenchcoat und einem tief in die Stirn geschobenen Hut stiehlt. Schweigsam, mit einem eigenen Ehrenkodex, ununterbrochen gegen das Böse kämpfend. Das finde ich hochinteressant."

    Was die Ähnlichkeiten zwischen dem Autor und seiner Figur betrifft, so sind es laut Krajewski vor allem Pünktlichkeit, Pedanterie und eine Schwäche für das Bridgespielen. Außerdem schwärmen sie beide für lateinische Maximen und Versen, nur dass Mock ein Altphilologe aus Leidenschaft ist, während Krajewski diesen Beruf tatsächlich ausgeübt hat.
    Seine Arbeit erforderte Genauigkeit und Liebe zum Detail, und diese Eigenschaften legt er auch als Krimiautor an den Tag. Das Böse, das Mock in "Pest in Breslau" bekämpft, ist allerdings insofern schwer darzustellen, als es im wahrsten Sinne des Wortes kein Gesicht hat. Hinter all den Verbrechen verbirgt sich nämlich die sogenannte "Bruderschaft der Misanthropen": ein Geheimbund, der aus Menschen besteht, die scheinbar hoch angesehene Mitglieder der Gesellschaft, in Wirklichkeit aber verkommene, zu allem fähige Kreaturen sind. Und die bei ihren makabren Treffen anonym bleiben.

    "Auf dem kleinen Friedhof riss der Wind an den Baumkronen und schüttelte trockenes Laub auf die Menschen, die sich um ein aufgerissenes Grab versammelt hatten. Der Wind konnte ihnen nichts anhaben, da sie alle Vogelmasken trugen. Von ihren Schultern schwebten schwarze Umhänge bis zum Boden; die vom Wind aufgewirbelten Sandkörner schlugen gegen den wächsernen Stoff. In den Händen der vermummten Gestalten schaukelten Petroleumlaternen, die Helligkeit ins Dunkel brachten."

    Es sind aber nicht allein die "Misanthropen", die Breslau dieses besondere, morbide Klima verleihen. Die Handlung spielt in den "goldenen" 20er-Jahren, doch die Stadt erscheint fast ausschließlich in dunklen Farben. Enge Straßen, an deren jeder Ecke die Nutten ihrem traurigen Geschäft nachgehen, verruchte Kneipen, in denen Diebe und Zuhälter das Sagen haben, Gefängnisse voller Perverser und Sadisten – Marek Krajewski tut auch diesmal alles, um die Stadt möglichst abstoßend wirken zu lassen.

    "Dazu muss man klar sagen, Breslau war gar nicht so schrecklich, wie ich es schildere. Im Gegenteil, es war eine wunderbare Stadt, ausgezeichnet geplant, ja in urbanistischer Hinsicht geradezu genial, jedenfalls für die damaligen Verhältnisse. Voller wunderschöner Mietshäuser, deren Überreste es bis heute gibt. Ich wohne selbst in so einem Haus und fühle mich dabei, als würde ich im alten Breslau leben, denn aus meinem Fenster sieht man auf eine Straße, in der es kein einziges Haus aus der Zeit nach 1945 gibt. Diese Stadt war hell, sonnig, reich. Eine richtige Kaufmannsstadt. Sie war wirklich herrlich, und ich habe sie nur deformiert. Warum? Weil ich Krimis schreibe, keine Liebesromane."

    Marek Krajewski, Pest in Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, 14.90 Euro.