Donnerstag, 25. April 2024

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Fatale Doppelmoral

Anfang Juli hat die EU ein strengeres Vorgehen gegen illegale Einwanderer beschlossen. Doch gleichzeitig machen viele Agrarbetriebe in Europa ein gutes Geschäft mit den so genannten Illegalen. Heute will der Bürgerrechts-Ausschuss des EU-Parlaments über die Ausbeutung dieser Immigranten beraten. Besonders viele Widersprüche im Umgang mit illegalen Einwanderern finden sich in Italien. Karl Hoffman berichtet.

16.07.2008
    In diesen Tagen herrscht wieder Hochbetrieb im Kanal von Sizilien.

    Allein zu Beginn der Woche wurden mehr als 500 Menschen auf mehreren Booten von der italienischen Küstenwacht entdeckt, gerettet und in das Aufnahmelager auf die Insel Lampedusa gebracht. Und was passiert dann mit ihnen? Das erklärt der sizilianische Flüchtlingsexperte Fulvio Vasallo Paleologo:

    "Die meisten Ankömmlinge stellen Asylanträge, im übrigen ist der Anteil der Bootsflüchtlinge Richtung Lampedusa an der Gesamtzahl der Immigranten nach Italien gering. Und viele von Ihnen haben einen Anspruch auf Asyl."

    Oft wird ihr Begehren ohne viel Federlesen abgelehnt. Wer Pech hat, wird gleich wieder Richtung Afrika abgeschoben, die Mehrzahl aber mit einem Ausweisungsbescheid aus dem Aufenthaltslager entlassen. Wer einen Asylantrag gestellt hat, bleibt sich selbst überlassen, lebt oft Jahre ohne jede Unterstützung, im besten Fall in einer karitativen Einrichtung, ansonsten in Baracken auf Gemüsefeldern. So wie Haroun:
    "Ich bin nun schon fast zwei Jahre in Italien und ich weiß immer noch nicht, was aus mir werden soll. Wenn sie mir keine Papiere geben, dann muss ich irgendwo anders hin. Aber daran will ich überhaupt nicht denken. Ich habe im Augenblick nur ein Ziel: ordentliche Papiere zu bekommen. Das ist das einzige, worum sich mein Denken dreht. Meine Papiere, meine Dokumente. Und dann wird man sehen."
    Der junge Afrikaner strandete in Süditalien mit einem Flüchtlingsboot. Seither lebt er ohne Arbeitsgenehmigung und muss für einen Hungerlohn auf den Gemüsefeldern Siziliens schuften, um ein paar Euro zum Leben zu verdienen. Ein Team von freiwilligen Helfern der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" hat in den vergangenen Jahren den Süden Italiens regelmäßig abgegrast und Zehntausende von illegalen Landarbeitern aus Afrika in zum Teil menschenunwürdigen Verhältnissen vorgefunden. Matratzenlager in Baracken und Ruinen, die Hälfte der Rechtlosen und Ausgebeuteten hat keine Toiletten oder fließendes Wasser, ein Drittel lebt ohne Strom. Die Scharfmacher in der neuen Regierung in Rom wollten diesem Zustand ein Ende machen und die Illegalen ins Gefängnis stecken. Doch Regierungschef Silvio Berlusconi machte einen überraschenden Rückzieher:

    "Man kann Menschen, die sich ohne Erlaubnis in Italien befinden, nicht gerichtlich verfolgen oder sie gar mit einer Gefängnisstrafe belegen."

    Wohl allein schon deshalb nicht, weil sonst die Strafgerichte zusammenbrechen und die Gefängnisse aus den Nähten platzen würden. Denn Schuld an der großen Zahl Illegaler im Land hat vor allem die italienische Bürokratie, wie Gabriele del Grande berichtet. Er ist Journalist und Beobachter an der Immigrationsfront:

    "Seit Ende letzten Jahres haben 700.000 Immigranten Antrag auf regulären Aufenthalt in Italien gestellt, die meisten von ihnen arbeiten irgendwo, oft auch als Haushaltshilfen und praktisch immer schwarz. Und nur 8000 haben bisher einen positiven Bescheid bekommen. In sieben Monaten. Dieses Einwanderungssystem funktioniert also nicht."

    In der Poebene wurde vergangene Woche eine Leiche entdeckt. Ein Erntearbeiter aus Indien, der einen Infarkt erlitten hatte. Weil er illegal beschäftigt war, hatte ihn der Arbeitgeber einfach in einem Wäldchen abgeladen, wo er ohne jede Hilfe nach ein paar Stunden starb. Folgen einer fatalen Doppelmoral: Einerseits wird illegale Einwanderung bekämpft, andererseits auf menschenverachtende Art und Weise ausgenützt. So auch die Strandverkäufer, Vu cumpra genannt, die sich mit dem Verkauf von billigem Schmuck, Strandkleidung und Badetüchern über Wasser halten:

    "Hier ein paar Ketten, Gürtel, Armbänder, aber man verdient kaum Geld."

    Vor allem aber: Ständig kommen die Ordnungshüter und machen Jagd auf die ungeliebten Immigranten:

    "Ein Katz- und Mausspiel, kaum sind die Polizisten wieder fort, dann kehren wir wieder zurück, aber Angst haben wir ständig. Denn ohne Aufenthaltserlaubnis darf man nicht arbeiten und man riskiert ständig, abgeschoben zu werden in eine Heimat, in der es keine Arbeit gibt."