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Fehlende Förderung an Schulen
Der verbaute Weg zur Bildung

Das Thema Bildung spielte im NRW-Wahlkampf eine große Rolle und wird dies auch im Bundestagswahlkampf tun. Doch ein Blick an die Basis zeigt, dass es an staatlicher Hilfe oftmals mangelt. So fehlt es an Unterstützung beim Unterrichten von Kindern aus bildungsfernen Familien, wie die Reportage über eine Kölner Gesamtschule zeigt.

Von Lea Fauth | 18.05.2017
    Kinder sitzen im Klassenzimmer
    Streitpunkt Bildung: Noch immer machen es die Strukturen an deutschen Schulen Kindern aus sozial schwachen Familien schwer. (dpa/ picture alliance/ Bernd Wüstneck)
    Um 8 Uhr beginnt Mathelehrer Lars Hambert den Unterricht mit Klasse 9. Auf dem Plan heute: Potenzen. Die Gesamtschule in einem ärmeren Stadtbezirk von Köln besuchen viele Kinder aus sozial schwachen Familien. Fünf Schüler fehlen heute. Das kommt oft vor – und nicht wegen Krankheit, erzählt Lehrer Hambert, der nicht bei seinem richtigen Namen genannt werden will. Ein Blick auf die Liste der vergangenen Wochen zeigt: Es sind oft dieselben, die fehlen.
    "Ich muss jetzt eigentlich auch alle Eltern anrufen, die ihr Kind nicht krankgemeldet haben beim Sekretariat. Aus meiner Klasse meldet niemand ihr Kind krank, im Sekretariat." 21 von 25 Schülern in Hamberts Klasse kommen aus einem Elternhaus, das staatliche Leistungen beziehen muss – meistens Hartz IV. Hambert erzählt von einem Schüler, der im vergangenen Jahr 400 Fehlstunden hatte:
    "Der kommt jeden Tag zu spät, der ist auch total verwahrlost. Da ist jetzt auch das Jugendamt mit drin. Jetzt nicht wegen Schlägerei oder so – die Mutter ist einfach psychisch krank." Unerreichbare Eltern. Lena Hackel, die ebenfalls nicht mit ihrem richtigen Namen zitiert werden will, ist Sozialpädagogin und kennt sich mit solchen Fällen aus. Dass man den Kindern so schlecht helfen könne, habe viele Gründe. Viele Eltern hätten geradezu Angst vor dem Jugendamt
    Sozialarbeiter mit Feuerlöschfunktion
    Tendenziell suchen die Eltern benachteiligter Kinder – ich will gar nicht sagen "benachteiligter Kinder", sondern Kinder, die in der Schule auffällig sind, weniger die Hilfe. Ich habe es nicht erlebt, dass die die Schulsozialarbeit aufgesucht haben. Es ist eher die Schulsozialarbeit, die kommt dann in so einer Feuerlöschfunktion, weil es brennt dann schon.
    Herr Hambert gibt die Klassenarbeit zurück, die vor den Osterferien geschrieben wurde. Die Schüler sind nervös. Wer zu schlechte Noten schreibt, muss in den sogenannten "Grundkurs" und wird nicht auf das Abitur vorbereitet. Die Durchschnittsnote dieses Mal: 4. Es gibt mehrere Sechsen und Fünfen, nur eine Eins. Ein üblicher Notenspiegel, sagt Hambert. "Die machen zu Hause halt nichts, und dann sind die auch noch so unregelmäßig da, und haben irgendwie keinen Bezug zum Unterricht.
    In vielen Fällen fühlt sich der Mathelehrer machtlos. "Der hat die Mathearbeit so geschrieben": Hambert malt Kreise auf ein Papier. Der Schüler habe nicht einmal versucht, die Aufgaben zu lösen. Auch Lena Hackel kennt das aus ihren Klassen. Die eigenen Eltern seien das einzige Vorbild der Kinder. Lena Hackel: "Also, es waren viele Kinder dabei, die gesagt haben: ganz klar werde ich später Hartz IV".
    Systematische Entmutigung
    Dorothee Wohlleben vom Verein "Studenten bilden Schüler" in Bonn sieht darin eine systematische Entmutigung, die auch durch die Bildungsstrukturen verstärkt werde. Schüler, die es besonders schwer in der Schule haben, werden zu "Schülern mit Förderschwerpunkt". Das heißt aber nicht, dass sie mehr gefördert werden als andere. Sondern hauptsächlich, dass sie entlastet werden und beispielsweise keine Klassenarbeiten mitschreiben brauchen. Wohlleben weiß, wie bedrückend sich schlechte Noten auf die Psyche der Schüler auswirken. "Das kann sein, dass der Schüler schon so deprimiert ist vom Schulsystem, und die Lücken so groß sind, dass der nicht mehr das Gefühl hat, dass das Ganze was bringt."
    Für Wohlleben ist die Einzelbetreuung deshalb wichtig. Der Verein "Studenten bilden Schüler" versucht, Kinder aus bildungsfernen Familien aufzufangen und ihnen mit Nachhilfe-Unterricht zu helfen. Melissa geht in die 6. Klasse und bekommt von dem Verein Hilfe für Englisch. Im Einzelunterricht kommt sie besser mit.
    Recht auf staatlich geförderte Nachhilfe
    Melissa: "Ich lerne das Lesen, zu verstehen, und die Wörter auch zu verstehen und zu übersetzen." Durch Ehrenamt versuchen Studierende somit das zu leisten, was die Bildungspolitik nicht hergibt. Zwar haben Sozialhilfeempfänger eigentlich das Recht auf staatlich geförderte Nachhilfe. In der Praxis gibt es jedoch hohe Hürden. Wohlleben: "Die Regelung ist, dass der Bildungsantrag erst gestellt werden kann, wenn der Schüler versetzungsgefährdet ist. Und dann ist Nachhilfe zu spät."
    Aber auch die Bürokratie kann besonders für bildungsferne Elternhäuser oft eine Überforderung darstellen, erzählt Lena Hackel. Nicht, weil die Eltern ihr Kind nicht lieben. Einfach aus Unwissen und sprachlichen Barrieren. Unabhängig von Nachhilfe und Einzelbetreuung bräuchte man für eine systematische Verbesserung der Zustände vor allem mehr Personal an den Schulen – findet Hackel. Die Sozialpädagogin hat nach 10-jähriger Berufserfahrung ihren Job aufgegeben und arbeitet momentan an einem administrativen Posten. Sie konnte nicht mehr.
    "Das große Problem für mich war, dass ich teilweise im Akkord und am Fließband arbeiten musste. Dass ich alleine zu wenig war, für das, was im Tagesprogamm anstand an den Schulen. Mein großes Ding war immer: ich möchte gerne präventiv arbeiten. Aber ich kam gar nicht dazu, präventiv zu arbeiten."
    "Lehrer leisten teilweise Unglaubliches"
    Die Integration von Kindern aus bildungsfernen Familien bleibe somit oft am Einzelnen hängen. Hackel sieht darin nicht das Versagen der Lehrer. Man müsse betonen, sagt sie, "dass Lehrer Unglaubliches teilweise leisten, in den Klassen. Aber es kann halt auch nicht sein, dass das immer dann so vom menschlichen Aspekt her abhängig ist. Also, das ist jetzt ein toller Mensch, und deshalb wuppt der das trotzdem."
    Dorothee Wohlleben von "Studenten bilden Schüler" kritisiert, dass staatliche Hilfe genau da fehlt, wo sie gebraucht würde. "Sicherlich könnte die Politik unglaublich viel machen. Gerade auf der untersten Riege: Die Hauptschulen werden gerne ignoriert, ist unser Eindruck. Also, warum haben Gesamtschulen Sozialarbeiter und Hauptschulen weniger? Das macht ja eigentlich keinen Sinn, eigentlich würde man ja sagen: Die Hauptschule ist die Schule, die am meisten Hilfe braucht. Wo die Klassen am kleinsten sein müssten, wo die zusätzlichen Förderungsmethoden am größten sein müssten." Die Konsequenzen aber tragen die Schüler, denen der Weg zu Bildung somit verbaut bleibt.