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Feigheit, Hypochondrie und Versagen

Der Schöpfer der "Ängstlichen" ist ein mutiger Autor. Peter Henning macht seinen Geburtsort Hanau zum "Epizentrum folgenschwerer Erschütterungen". Die Lektüre ist trotz des Blicks in Abgründe vergnüglich, vielleicht weil der Erzähler die Choreografie seiner Figuren mit Augenzwinkern begleitet.

Von Helmut Mörchen | 06.10.2009
    Der Schöpfer der "Ängstlichen" ist ein mutiger Autor. Peter Henning macht Hanau, seinen Geburtsort und den der Brüder Grimm, zum "Epizentrum folgenschwerer Erschütterungen". Aus der Weite des Weltraums lässt er einen Jahrhundertsturm in die hessische Provinzstadt fahren. Das Unwetter bildet den Rahmen für eine märchenhafte Handlung. Der Erzähler bewährt sich als allmächtiger Strippenzieher, der die Marionettenfiguren des Romans ganz schön zappeln lässt. Er lässt sie ausziehen, um – ja was? – zu lernen.
    Im Mittelpunkt steht die 78-jährige Johanna Jansen, die ihr Haus in der Ankergasse in Richtung des Altenwohnheims Herz-Jesu-Stift zu verlassen beabsichtigt. Ihren Kindern und Enkeln, die in Hanau und Fulda leben, will sie das bei einem letzten Treffen in der Ankergasse beibringen, selbst noch ganz betroffen vom plötzlichen Verschwinden ihres langjährigen Lebensgefährten Janek. Mit den Kindern und Enkeln verkehrt sie nur noch telefonisch. Niemand weiß recht was vom andern, allein der allwissende Erzähler öffnet den Lesern in kühnen Schwenks synchrone Blicke auf die verschiedenen Bühnen der Hauptfiguren.

    Helmut, alternder Tennislehrer, ist ein zwischen hypochondrischer Todesahnung und einem unerträglichem Gutgelauntsein hin und her gerissener Egomane. Die Tochter Ulrike führt einen abstrusen und nicht endenden Vernichtungskampf gegen ihren untreuen Ehemann Rainer. Konrad schließlich, der schon als Jugendlicher mit der Diagnose Schizophrenie in die geschlossene Psychiatrie geriet, bricht aus der Klinik aus, Richtung "Amerika", und landet vom Sprung aus dem Fenster verletzt im nächstgelegenen Krankenhaus. Ben, Helmuts von ihm verachteter Sohn ist erfolgloser Sportjournalist und erlebt mit der Bankangestellten Iris eine wenigstens ansatzweise glückende Beziehung. Das Paar hält rettende Verbindung zum skurrilen eigentlichen Helden des Romans, Janek, dem aus Polen stammenden Antipoden der ängstlichen Jansens: "Ob er Angst hatte? Nein Angst hatte Janek nicht. Angst war in seinen Augen etwas für Waschlappen und solche, die noch etwas zu verlieren hatten."

    Er, der unablässige Spieler, gnadenloser Zocker und ewige Verlierer, musste nämlich Johanna auf der Flucht vor verbrecherischen Spielgläubigern verlassen. Wie Ben und Iris ihm zu den zum Überleben notwendigen Euro 90.000 verhelfen, was er dann mit diesem Geld vorhatte, das er natürlich nicht den Gläubigern übergab, und warum dieses letzte Spiel scheiterte, sei hier nicht verraten. Die Kriminalposse um Janek ist ein eigener kleiner Roman im Roman. Und ein hübscher Kontrapunkt zur Haupthandlung, deren Pathos von Henning zuweilen auf die Spitze getrieben wird.

    Feigheit, Hypochondrie und Versagen treiben Helmut, Ulrike und Rainer in die Medikamentensucht:

    "Vivinox, Euvegal, Sedacalman, Captagon, Psychotonin Sed, Propra-ratiopharm – den Jansens war nichts heilig, wenn es darum ging, ihre flatterenden Nerven mit chemischer Hilfe im Zaum zu halten oder sich jene kostbaren REM-Schlafphasen zu sichern, in denen ihre aufgewühlten Seelen Ruhe zu finden suchten. Fortgesetzter Medikamentenmissbrauch war bei den Jansens seit Langem an der Tagesordnung. Es wurde gespritzt, geschluckt und inhaliert, was das Zeug hielt."

    Im Gegenzug bricht Konrad, der als einziger zwingend Medikamente nehmen muss, mit seiner Flucht die Behandlung ab, während Ulrike sich weiter "lieber der beruhigenden Wirkung eines Präparats namens Sedacalman anvertraute" statt - wie hier der Erzähler sehr markant kommentiert – "im Fuldaer Telefonbuch nach einem freundlichen Psychotherapeuten Ausschau zu halten, der, mit der Stirnlampe der Furchtlosigkeit bewehrt, gemeinsam mit ihr in die Tiefen ihrer zerwühlten Seele hinabstieg und Licht ins Dunkel brachte".

    "Die Ängstlichen" leben in einer gottlosen Welt. Der erklärte Atheist Helmut schwitzt auf seinem Hometrainer seinen Schweiß in ein T-Shirt mit der Aufschrift "Gott liebt dich" und hadert in der schließlich unbegründeten Angst, Blasenkrebs zu haben: "Wieso, um Himmels willen, straft der Kerl mich mit so einer Sache?" Johanna sieht auf dem Heimweg in die Ankergasse in einer klaren Nacht "in großer Entfernung funkelnde Sterne, eisblau und kalt und Lichtjahre entfernt. Doch vom Allmächtigen keine Spur." Nach all den enttäuschenden Telefonaten mit Kindern und Enkel und vor der überraschenden letzten Reise wird eine Begegnung mit einem Hirschkäferweibchen ihre letzte Erfüllung:

    "Kurz darauf hatte sie mit dem Glas in der Hand im Hof gestanden und dem Tier die Freiheit geschenkt und mitangesehen, wie das Insekt schlagartig die Flügeldeckel geöffnet und die glasigen, mächtig vibrierenden Unterflügel entblößt hatte und surrend in den Abend entschwunden war. Dabei fühlte sie, dass ihr Herz auf einmal heftig zu schlagen begann. Es schlug vor Aufregung und sanfter Beglückung über das gerade Erlebte, aber auch aus dem Gefühl heraus, einmal mehr verlassen worden zu sein."

    Einzig Ulrike begegnet Gott oder einem Wim Wenderschen Engel auf einem Autobahnrasthausparkplatz. Ein alter Mann, der sich später in Luft auflösen wird, klopft an ihr Autofenster und führt mit ihr in der Raststätte ein Gespräch:

    "Ich habe einfach die Orientierung verloren", entfuhr es ihr zu ihrer eigenen Überraschung. "Das passiert uns allen", sagte der Alte ruhig und blickte sie intensiv an. "Darum bin ich hier." Ulrike sah ihn irritiert an. "Weil ich die Orientierung verloren habe?" "Nennen Sie es, wie Sie wollen", antwortete ihr Nachbar gelassen und setzte die Tasse, die er eben noch in der Hand gehalten hatte, lautlos auf dem Unterteller ab. "Es ist wie eine Wolke, die uns plötzlich einhüllt und uns vorübergehend die Sicht nimmt. Doch das geht vorbei. Ich weiß es, glauben Sie mir!" Kaum waren die Worte des anderen verhallt, spürte Ulrike, wie auf rätselhafte Weise die Verkrampfung ihres Körpers nachließ. Einen Moment lang meinte sie wie beim Blick durch ein Mikroskop ihre Zukunft vor sich sehen zu können. Jedes einzelne Detail. Die Wolke, von der der Mann gesprochen hatte, war tatsächlich im Begriff, sich aufzulösen. "Sie brauchen keine Angst mehr zu haben", sagte er und faltete dabei wie zum Gebet die Hände. "Ja, ist gut", erwiderte sie so selbstverständlich wie eine Gläubige, die einem Priester nachspricht."

    Eine priesterliche Figur schließlich ist Bens Freund Robert Kaplan – man beachte den sprechenden Nachnamen -, Inhaber eines modernen Antiquariats mit dem schönen Namen "Lesbar", in dem mehr gute Gespräche geführt als Bücher verkauft werden. Der Antiquar, Bonvivant und nüchterner Skeptiker zugleich, rät Ben, sich die Rolle, "der Retter der Welt zu sein", aus dem Kopf zu schlagen und stattdessen lieber "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" zu lesen.

    Ich bleibe hier nun bei Peter Hennings Roman, dessen Lektüre trotz des Blicks in Abgründe vergnüglich ist. Vielleicht, weil der Erzähler die Choreografie seiner Figuren mit Augenzwinkern begleitet. Sodass weder Untergangsfantasien noch Erlösungshoffnungen am Ende stehen. Sondern ein nüchternes "Weiter so". Im letzten Satz des Romans bescheinigt der Erzähler, dass die "Ängstlichen" wenigstens eine Portion Einsicht gewonnen haben. "Und das Leben ging weiter, immer weiter, unaufhaltsam. Konrad hatte das schon vor Jahren begriffen, und nun wussten es auch die anderen." Und wir Leser am Ende der Lektüre von Peter Hennings Roman ebenfalls.

    Peter Henning: Die Ängstlichen. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 491 Seiten, 22,95 Euro.