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Feind bürgerlicher Ordnung

Vor 20 Jahren starb der Autor Jean Genet, der in Frankreich zu den Großen des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Genet war kein Rebell, der die Unterdrückung abschaffte. Es blieb der Verdacht, dass er die Unterwerfung letztlich brauchte.

Von Joachim Johannsen | 15.04.2006
    Als Jean Genet am 15. April 1986 in Paris starb, war der Tenor der Nachrufe einhellig: Ein Klassiker der Moderne wie Beckett oder Ionesco war verstummt. Am 19. Dezember 1910 verhießen die Sterne allerdings anderes. An seinem Geburtstag begann für Genet ein merkwürdiger Wettlauf mit dem Tod, ein Leben als Außenseiter, ein Totentanz in realistischen und märchenhaften Variationen mit den Stationen Waisenhaus, Besserungsanstalt, Armee und Gefängnis.

    Dann enfant terrible, Wunderkind und Schoßhund der Pariser Literatenszene, schließlich Aufnahme seiner Stücke ins Repertoire der Comédie-Française und Herausgabe seines dramatischen Werks in der Pléiade bei Gallimard. Der Wohnsitz im Olymp konnte den Feind bürgerlicher Ordnung aber nicht beeindrucken. Und so wünschte Genet sich eine Wiedergeburt auf dem Planeten Uranus, dem Stern des Todes und der Revolte. Zeit seines Lebens spann er Todesfallen, verherrlichte Mörder, konstruierte Mordrituale, feierte die Brüderlichkeit grinsender Alligatoren.

    Jean Genet schrieb anders als seine kriminelle Karriere vermuten ließ stilistisch perfekte Hochsprache, poetisch verdichtet. Der erste, der das entdeckte, war sein Gefängniswärter, der den Roman Notre Dame des Fleurs (1943) sofort vernichtete. Genet schrieb alles noch einmal aus dem Gedächtnis. Dann fiel das herausgeschmuggelte Manuskript Jean Cocteau und Jean-Paul Sartre, den damaligen Literaturpäpsten, in die Hände. Sie erwirkten 1949 eine Begnadigung. Dass ihn die bürgerliche Gesellschaft nun auf Händen trug, das konnte Genet allerdings kaum ertragen. Er bedankte sich nicht bei Regisseuren, die seine Stücke aufführten, er fand Sartres Hymnen auf den "Heiligen Genet" unerträglich. Er blieb das Kind aus der Fürsorge, das die Hand beißt, die ihn streichelt.

    Genet war kein Rebell, der die Unterdrückung abschaffte, denn es blieb der Verdacht, dass er die Unterwerfung letztlich brauchte. Er liebte die Verräter. Einem von ihnen setzten "Die Wände" ein Denkmal, ein skandalöses Schauspiel über den algerischen Kolonialkrieg, das 1961 in Berlin uraufgeführt werden musste, weil es für Paris zu explosiv war. Schon "Die Zofen" von 1947 wurde ein Klassiker der europäischen Spielpläne, auch von den deutschen Bühnen ist der Einakter nicht wegzudenken.

    "Solange, wir haben keine Minute mehr zu verlieren."

    "Sprich, aber ganz leise."

    "Die gnädige Frau muss ihren Lindenblütentee trinken."

    "Nein, ich will nicht."

    "Die gnädige Frau wird ihren Lindenblütentee trinken. Denn sie muss schlafen. Und ich muss wachen. Ich wiederhole, unterbrich mich nicht mehr. Hörst du mich? Gehorchst du mir?"

    "Ich gehorche."

    In den Zofen geht es wie in "Unter Aufsicht" von 1949 um den Gehorsam bis in Mord und Tod. Ein ewiges Rollenspiel-Ritual bringt schließlich eine der Zofen um. Genet wollte das von Männern gespielt sehen, ein Wunsch, den man ihm nur selten realisierte. Vom Aufgehen der schwulen Subkultur im Mainstream konnte damals keine Rede sein. Er machte allerdings das Wort "Tante" gesellschaftsfähig, das französische Äquivalent für Tunte, Schwuchtel.

    Auch die große Liebe seines Lebens, die Liaison mit dem jungen Akrobaten Abdallah, führt in den Tod. Genet entsagt der Literatur, als sein Lebenspartner sich 1964 umbringt. Die folgenden 20 Jahre verbringt er mit Reisen, oft heimgesucht von Depressionen. Was er noch schreibt, sind politische Gelegenheitsarbeiten: 1968 eine Hommage an Daniel Cohn-Bendit, in den 70er Jahren eine Solidarisierung mit den Black Panthers, 1983 ein ins Requiem überhöhter Tatsachenbericht über das Massaker im Palästinenserlager Chatila.

    Er starb in einem bescheidenen Pariser Hotelzimmer über den Korrekturfahnen seines letzten Romans "Un Captif Amoureux", der eben auf Deutsch erschien. Begraben liegt Jean Genet in Marokko auf dem Friedhof von Larache.