Dienstag, 19. März 2024

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Ferenc Molnárs „Liliom“ bei den Salzburger Festspielen
Anders sind immer die Anderen

Nachhilfe in gendergerechter Sprache und Anti-Aggressions-Training: Molnárs Trunkenbold Liliom muss sich im gesitteten 21. Jahrhundert zurecht finden. Kornél Mundruczós Inszenierung ist ein Plädoyer für die Außenseiter in unserer politisch korrekten Mehrheitsgesellschaft.

Von Karin Fischer | 18.08.2019
Eine Szene aus Liliom mit Maja Schöne (Julie) und Yohanna Schwertfeger (Marie).
"Liliom" bei den Salzburger Festspielen, hier eine Szene mit Maja Schöne als Julie und Yohanna Schwertfeger als Marie (Salzburger Festspiele, Matthias Horn)
Im ersten Bild findet sich der kaputte Liliom statt vor der Himmelstür vor einer eisernen Wand wieder. Regisseur Kornél Mundruczó hat den Schluss ganz nach vorne gesetzt und aus Molnárs Engeln eine schön divers aufgestellte Truppe von Laienspieler*innen gemacht, die in Hamburg gecastet wurden und die Liliom erstmal gendergerechte Sprache beibringen:
"Ihr Name?" - "Liliom." - "Ist das die von Ihnen gewünschte Anrede?" - "Und wer bist du?" - "Also: Für mich gilt die Bezeichnung Mitarbeitende."
An der Wand steht "Safe space", an diesem Ort herrscht die politische Korrektheit der Wohlmeinenden statt der k.u.k.-Bürokratie, mit Zwischenszenen, die die Autorin Kata Wéber erdacht hat. Später wird Liliom hier "Ich bin Teil des repressiven Patriarchats" schreiben oder an einem Anti-Aggressions-Training teilnehmen müssen. Seine Geschichte läuft in Rückblicken ab. Wenn sich die Wand zum ersten Mal hebt, wird der Clou des Abends sichtbar: Im Bühnenbild von Monika Pormale recken zwei Roboterarme ihre Greifer in die Höhe, die nun eine Bank und ein vielteiliges Wäldchen aus künstlichen Goldregenbüschen - wohlgemerkt, wir sind im Theater - aus der Kulisse heben. Auch den Vollmond in der nächsten Szene ziehen sie so aus dem Regal, die Greifarme werden zu Mitspielern, die sich ganz am Schluss auch artig verbeugen. Von dräuender Musik untermalt, wenig romantisch, die Arbeiter der Zukunft.
Regisseur modernisiert Molnárs Frauenfiguren
So wie Mundruczó das "Märchenhafte" ins Zukünftige übersetzt, hat er die Figuren modernisiert, vor allem die der Frauen. Oda Thormeyer gibt die Besitzerin des Fahrgeschäfts Frau Muskat, mit der Liliom ein Verhältnis hat, als eifersüchtige Chefin, die zurückhaben will, was vermeintlich ihr gehört, und mit viel erwachsener Wehmut. Sie wirft Liliom raus, als er mit Julie anbandelt, die Maja Schöne als ganz eigensinnige, trotzig liebende Frau spielt, die einfach mal nicht anders kann. Logisch, dass sie beim ersten Sex auf der Parkbank die Regie übernimmt.
"Jetzt geh ich nicht mehr."
Mit der Arbeitslosigkeit aber beginnt das Drama, inklusive häuslicher Gewalt, geplantem Raubüberfall, Polizistenmord und Selbstmord des Protagonisten. Wenn die Wand dann wieder runter fährt und der Underdog Liliom sich in einer Gesellschaft wiederfindet, deren Sprache er nicht mal versteht, führt die moralisierende Engel-Truppe - klein, dick, farbig, schwul - in Tutus ein Walzer-Ballett auf. Auch ein schönes Bild für den Anpassungsdruck einer Kulturtradition, die als normierende "Gewalt" vielleicht noch zu wenig bedacht worden ist.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Bringen Liliom (Jörg Pohl) die gendergerechte Sprache bei: moralisierende Engel in Mundruczós Inszenierung bei den Salzburger Festspielen (Salzburger Festspiele, Matthias Horn)
Mundruczós Inszenierung hat viele solcher sinnfälligen Beobachtungen parat und jede Menge verspielte, märchenhaft schöne und perfekt choreographierte Szenen: Wenn Liliom in seiner einfachen Bretterbude zwischen den beiden Frauen steht und eine Videokamera seine Zerrissenheit zeigt; wenn er mit dem kriminellen Freund Ficsur ein Wassertrommeltänzchen im Plastikpool aufführt; oder mit ihm im künstlichen Schneetreiben über "Bahngleise" in Form von Laufbändern marschiert, die natürlich die Roboterarme auf der Bühne platziert haben.
Jörg Pohl spielt den Liliom perfekt, sein schmaler Körper balanciert exakt zwischen Halbstarkenpose und vergeblicher Lässigkeit. Wenn er aggressiv wird, mahlen seine Kiefer, sein Blick wird starr, Küsse sind Bisse, Liebe bedeutet Schläge, ein Warum stellt sich hier nicht.
Mundruczó zeigt, was Theater kann
Die Botschaft des Stücks, samt dazu erfundener Klammer: Für die Abgehängten unserer Gesellschaft besteht der Tugend-Terror in der aufgezwungenen politischen Korrektheit der aufgeklärten "Anderen". Ein genialer Trick in Mundruczós Inszenierung, der das Stück heute überhaupt spielbar macht. Lilioms Botschaft lautet nämlich: Ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt, ich werde nicht wie ihr. Ich werde nicht bereuen, ich brauche keine Heilung, ich werde nicht der Sklave eurer Ideologie, eure Würde ist mir egal, ich bin anders. Liliom reklamiert das krasseste denkbare Außenseitertum für sich mit Worten, die ziemlich vernünftig klingen.
"Es ist nicht an Ihnen zu entscheiden, wir entscheiden! Herr Liliom, es geht hier doch wirklich nicht um Sie, sondern um die menschliche Zivilisation." - "Ach so ist das. Ich soll jeden respektieren, ich soll alle achten!? Ich sag euch mal was. Respekt muss man sich verdienen!"
Mundruczó und Kata Wéber führen den Identitätsdiskurs, der derzeit die Gesellschaft und das Feuilleton bestimmt, ebenso intelligent wie humorvoll auf der Theaterbühne weiter. Und bewahren trotzdem auch den Kern von Molnárs Stück, der von unbedingter Liebe handelt, die nicht zähmbar ist. Die keine Regeln kennt, die niemanden um Erlaubnis fragt, die möglich macht, dass eine Frau Schläge erduldet und ein Mann einen Mord plant, weil er eine Familie ernähren muss.
In Salzburg ist ein großes, sehr poetisches, sehr lustvolles Plädoyer gegen gesellschaftliche Zurichtungen aller Art zu sehen, und für die Außenseiter in der - vermeintlich oder tatsächlich - politisch korrekten Mehrheitsgesellschaft. Das ist nicht nur gut gedacht. Mundruczó zeigt, was Theater kann und heute sein kann. Und dass anders immer die Anderen sind. Molnárs "Liliom" wurde durch diese Inszenierung nochmal neu zurück ins Leben gebracht. Ein großer Abend.