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Festessen in der Literatur
Schlaraffische Lektüren

Für religiöse Festtage sind besondere Speisen und ausufernde Mahlzeiten vorgesehen - auch in der Literatur. Hier verstecken sich in Essen und Essgewohnheiten oft Hinweise auf Charaktere und Strukturen. Eine kurze Kulturgeschichte der Völlerei von Hänsel und Gretel bis Hanno Buddenbrook.

Von Miriam Zeh | 26.12.2019
Ein festlich gedeckter Tisch zu Weihnachten
Auch in der Literatur - im romantischen Kunstmärchen oder dem modern-dekadenten Generationenroman - wird an den Weihnachtstagen geschlemmt (imago / chromorange)
In seiner ursprünglichen Form ist Nahrung der Anfang von allem. Menschen müssen sich ernähren, nach der Geburt verlangt das Nahrungsbedürfnis als erstes gestillt zu werden. Die Nahrungsaufnahme ist zugleich eine kulturell gestaltete Situation, gefüttert zu werden die erste soziale Erfahrung, die ein Kind erlebt. Leben beginnt also – physisch wie gesellschaftlich - mit dem Bedürfnis nach Nahrung. Wie es befriedigt wird, gibt Auskunft über unsere grundlegenden sozialen Strukturen. Gesellschaften sind, wie sie essen, könnte man in Ablehnung an Ludwig Feuerbachs bekannten Spruch: "Der Mensch ist, was er isst" formulieren.
Nicht nur tatsächlichen Daseinszustände, sondern auch Träume, Sehnsüchte und Ängste lassen sich durch Ernährung ausdrücken. Es gibt Speisen und Getränke, unser sogenanntes "comfort food", das wir konsumieren, um emotionale Sicherheit zu gewinnen. Nahrung kann wie der Fetisch besondere magisch-religiöse Kräfte zugesprochen bekommen. Und an speziellen Speisen, die religiösen Hochfesten vorbehalten sind, zeigt sich: Essen wird mit Bedeutung aufgeladen, das Materielle angereichert mit einer geistigen Sphäre, die über den konkreten Verzehr hinaus bestehen bleibt.
Nahrungsmittel als Zeichen
Die "Wissenschaft von den Zeichen" des französischen Philosophen Roland Barthes, die Semiologie, kann diesen Prozess der Bedeutungszuweisung erklären. So verbinden wir einen Teller voll Austern mit Erotik, ein Glas Milch mit Kindheit und Geborgenheit. Nicht jedoch, weil die Lebensmittel selbst diese Eigenschaften mit sich brächten. Im Gebrauch wird ein Nahrungsmittel zum Zeichen. Brot wandelt sich in der christlichen Eucharistie zum Leib Christi, Jesus spricht ihm diese Bedeutung zu, Brot ist aber auch Zeichen für das Lebensnotwendige schlechthin. Es ist der Umgang in einem bestimmten kulturellen und sozialen Kontext, durch den Speisen und Getränke mit Bedeutung aufgeladen werden. Beispiele finden sich vor allem rund um religiöse Feiertage.
"Gerade an Weihnachten verleiben wir uns ja auch symbolisch zum Beispiel einen Christstollen ein, der an das Jesuskind in Leinen gewickelt, erinnern soll. Das wäre ein Paradebeispiel dafür, dass wir eben Essen eine Bedeutung zuweisen, an einen besonderen Anlass geknüpft und dass wir nicht nur metaphorisch, sondern auch tatsächlich uns etwas einverleiben", sagt Tanja Rudtke. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und Expertin für "Kulinarische Lektüren", so der Titel ihrer einschlägigen Monographie, die nicht nur eine Kulturgeschichte des Essens in der neueren deutschen Literatur nachzeichnet, sondern auch zahlreiche weitere Publikationen zum Thema inspiriert hat. Denn in Romanen, Gedichten und Erzählungen finden sich zahlreiche bedeutungsträchtige Szenen von Nahrungsaufnahme und -zubereitung.
Christstollen aus Kerstin Hensels Spinnhaus
In ihrem 2003 erschienen Roman "Im Spinnhaus" erzählt Kerstin Hensel vom Christstollen. In einem fiktiven Haus im Erzgebirge, dem Spinnhaus, bereiten drei steinalte Frauen, alle über hundert Jahre alt, das kalorienreiche Weihnachtsgebäck zu: "Barbara besorgte die Zutaten: Rosinen Korinthen Rum Zitronat Mandeln Zitronen Mehl Hefe Zucker Milch Salz und Butter schaffte sie mit der Kiepe heran. Hundertjährig buckelte sie die Waren von der Konsumverkaufsstelle den Geringsberg hoch zum Spinnhaus und lud alles auf dem Küchentisch ab."
Danach kneten die drei Frauen den Teig in die traditionelle Stollenform: oval, mit einer Längsfalte in der Mitte, die, mit Puderzucker weiß angestaubt, an das in Leinen gewickelte Christkind erinnern soll: "Sechs heilige Hände strichen über die länglichen ineinandergeschlagenen Teigstücke, befühlten sie, ließen das Kindlein in jeder Mandel, jeder Rosine entstehen, der nun auf ein Backblech gelegt und für anderthalb Stunden in den Ofen geschoben wurde. Nach dem Backen bestrich Barbara die heißen Stolln mit Butter. Immer und immer wieder, bis alle Butter aufgebraucht war. Streute dick Zucker darüber und bedeckte die Wundergeburt schließlich mit einer Lage Puderzucker. Und die Alten sahen, daß es sehr gut war und verließen am Heilig Abend das Spinnhaus."
Völlerei am Feiertag
Bei Kerstin Hensel verteilen die drei alten Frauen ihre Stollen am Weihnachtsabend an Einsame, Hungrige und Trostsuchende. Das Herstellen und gemeinsame Essen des Gebildbrotes geht in die gemeinsame Erinnerung der Geburt Jesu und in ein Zeichen der Nächstenliebe über.
Doch nichts nur Art und Verzehrsituation gestalten sich bei weihnachtlichen Festspeisen besonders. Auch die schiere Menge kann bemerkenswert sein, sagt Tanja Rudtke: "Ein Feiertag bedeutet immer Nicht-Alltag, er soll sich eben vom Alltag abheben. Das bedeutet, dass man sich etwas gönnt, dass man spezielle, besondere Speisen isst und man kann auch mal etwas mehr essen."
Am Festtag neigt der Mensch zur Völlerei, als Privileg und kalkuliertes Grenzüberschreitungsmoment in der bürgerlich-industriellen Leistungsgesellschaft. Denn lange Zeit existierte die Wunschvorstellung vom Überfluss nicht ohne die reale Erfahrung des Mangels. Vor allem in den Märchen verschiedenster Kulturkreise treffen die beiden Pole aufeinander. Essen und Trinken nehmen etwa in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm eine zentrale Rolle ein, wobei im Laufe der Geschichte meist ein Mangel behoben und Bedürfnisse befriedigt werden. Märchenfiguren streben nach Reichtum, nach einem angenehmen und sorgenfreien Leben, in dem sich all ihre Wünsche erfüllen.
Bittere Not bei den Märchen-Eltern
In ihrer Vorrede zur Sammlung betonen die Grimms, dass diese märchentypischen Motivationen einem realistischen Hintergrund haben. Sie beruhen auf den tatsächlichen Nöten und Wünschen vieler Menschen und sind gerade deshalb so kraftvoll und zumindest zu einem gewissen Grad zeitlos: "So einfach sind die meisten Situationen, dass viele sie wohl im Leben gefunden, aber wie alle wahrhaftigen doch immer wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brot mehr und müssen ihre Kinder in dieser Not verstoßen."
Gemeint sind etwa Hänsel und Gretel, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden. Die Erziehungsberechtigten handeln kalt und grausam, aber aus bitterer Armut. Sie haben nichts mehr zu essen. Nur ein einziges Nahrungsmittel scheint noch im Elternhaus vorhanden: ein halber Laib Brot. Ein Stück davon bekommen die Kinder mit auf den Weg. Doch Hänsel streut seines auf den Waldboden, in der Hoffnung, den Heimweg zu markieren. Gretels Portion teilen die Geschwister untereinander. So schwindet ihr "täglich Brot" von Tag zu Tag. Mit dem Erzählfortgang verkleinern sich die Portionen, bis schließlich alles aufgebraucht ist.
"Hänsel meinte doch den Weg nach Haus zu finden und zog die Gretel mit sich, aber sie verirrten sich bald in der großen Wildniß und gingen die Nacht und den ganzen Tag, da schliefen sie vor Müdigkeit ein; und gingen noch einen Tag, aber sie kamen nicht aus den Wald heraus, und waren so hungrig, denn sie hatten nichts zu essen, als ein paar kleine Beerlein, die auf der Erde standen. Am dritten Tage gingen sie wieder bis zu Mittag, da kamen sie an ein Häuslein, das war ganz aus Brod gebaut und war mit Kuchen gedeckt, und die Fenster waren von hellem Zucker. 'Da wollen wir uns niedersetzen und uns satt essen', sagte Hänsel; 'ich will vom Dach essen, iß du vom Fenster, Gretel, das ist fein süß für dich.'"
Menschheitstraum vom Schlaraffenland
Das Hexenhaus bildet nicht nur den Kontrast zur ärmlichen elterlichen Hütte. Es zitiert auch eine uralte Wunschvorstellung der Menschheitsgeschichte: Die Idee eines Schlaraffenlands, in dem Nahrungsüberfluss herrscht, in dem Milch und Honig fließen und Wein statt Wasser. Alle Tiere hüpfen und flattern vorgegart in den Mund, statt Steinen liegen Käse herum. Obwohl das Lebkuchenhaus Hänsel und Gretel um ein Haar zum tödlichen Verhängnis wird und sich nur als Lockmittel entpuppt für die kannibalistischen Gelüste der Hexe, ist die Vorstellung eines Schlaraffenlands kulturgeschichtlich äußerst persistent.
Tanja Rudtke erläutert: "Das ist tatsächlich eine Vorstellung, die sehr weit verbreitet ist, die es eigentlich in allen Kulturen gibt. Und die Basis, der das entspringt ist die materielle Not. Zu vielen Zeiten gab es wenig zu essen, Nahrungsknappheit. Der Gedanke, dass Essen verfügbar ist, dass jede Art von Speise, die man sich vorstellt, da ist, man kann sie sich einverleiben, das ist eine sehr verlockende Vorstellung für den Menschen gewesen. Und vor allem ist es beim Schlaraffenland ja so, dass man dafür nicht arbeiten muss."
Während sich das Schlaraffenlandmotiv in den Märchen, bis in die frühe Neuzeit noch aus real existierendem Mangel speiste, verändert sich der Traum vom Überfluss im 19. Jahrhundert mit dem industriellen Zeitalter. So beginnt E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen "Nussknacker und Mausekönig" keineswegs mit Entbehrung - im Gegenteil. Am Weihnachtsabend werden Marie und ihr Bruder Fritz reich beschenkt. Auch einen Nussknacker finden die Geschwister auf dem Gabentisch, den Fritz jedoch sogleich derart harte Nüsse knacken lässt, dass er sämtliche Zähne verliert. Marie nimmt sich daraufhin des lädierten Nussknackers an - ein verwunschener Junge, wie sich bald herausstellen soll - und verteidigt ihn mit einem mutigen Einsatz ihrer Pantoffel gegen das spätabends vordringende Mäusepack.
Ästhetisierte Genüsse der Romantik
Als Dank reist der Nussknacker mit Marie durch sein Reich. Hier stoßen die beiden bald auf eine Süßwarenutopie schlaraffischen Ausmaßes:
"'Wir befinden uns auf der Kandiswiese'", sprach Nußknacker, 'wollen aber alsbald jenes Tor passieren.' Nun wurde Marie, indem sie aufblickte, erst das schöne Tor gewahr, welches sich nur wenige Schritte vorwärts auf der Wiese erhob. Es schien ganz von weiß, braun und rosinenfarben gesprenkeltem Marmor erbaut zu sein, aber als Marie näher kam, sah sie wohl, dass die ganze Masse aus zusammengebackenen Zuckermandeln und Rosinen bestand, weshalb denn auch, wie Nußknacker versicherte, das Tor, durch welches sie nun durchgingen, das Mandeln- und Rosinentor hieß. Gemeine Leute hießen es sehr unziemlich, die Studentenfutterpforte. Auf einer herausgebauten Galerie dieses Tores, augenscheinlich aus Gerstenzucker, machten sechs in rote Wämserchen gekleidete Äffchen die allerschönste Janitscharenmusik, die man hören konnte, so dass Marie kaum bemerkte, wie sie immer weiter, weiter auf bunten Marmorwiesen, die aber nichts anderes waren, als schön gearbeitete Morschellen, fortschritt."
Literaturwissenschaftlerin Tanja Rudtke: "Das Zuckerreich, das E. T. A. Hoffman hier entwirft, ist auf Kinder gemünzt, weil er hier eine unendliche Vielfalt an Süßigkeiten in einer Landesform entwirft, die eben der Ästhetik der Romantik verpflichtet ist. Dadurch dass sie hier nicht nur Süßigkeiten haben, viele Schleckereien, sondern es sind auch Klänge, es werden Düfte beschrieben. Das ist eine Vorstellung, die alle Sinne anspricht. Dadurch unterscheidet sich das ziemlich stark von dem Schlaraffenlandmotiv, wie im Volksmärchen, im einfachen wie bei Hänsel und Gretel. Das ist hier schon typisch romantisch, dieser Detailreichtum. Und es ist vor allem ein Augenschmaus. Marie probiert nicht jede Süßigkeit, sondern sie schaut sie sich an. Es wird ihr präsentiert."
Punschexzesse bei E. T. A. Hoffmann
Ein ästhetisiertes Schlaraffenland also, ganz im Ideal der romantischen Literatur. Reifer und erwachsener wird Marie aus dieser Märchenlandschaft ins Elternhaus zurückkehren und am Ende der Geschichte, im märchenhaften Happyend, den erlösten Nussknacker heiraten.
Während E. T. A. Hoffman den Überfluss im "Nussknacker" kindgerecht, in Form von Süßigkeiten illustriert, kommen in anderen Erzählungen des Romantikschriftstellers auch Erwachsene auf ihre Kosten. Gern und viel wird in Hoffmann’schen Texten Alkohol getrunken. Auch selbst war der Dichter Wein, Bier und Schnäpsen aller Art nicht abgeneigt. Von den einen als Säufer denunziert, von den anderen als Kunsttrinker geadelt, spielt Alkohol für und in E. T. A. Hoffmanns Schreiben eine zentrale Rolle. Ein Getränk ist dabei vor allem zu Weihnachten und zu Lebzeiten des Autors von herausgehobener Bedeutung, wie Tanja Rudtke erläutert: "Der Punsch ist ein ganz besonderes Getränk und es ist im 19. Jahrhundert eine Mode gewesen, Punschkränzchen abzuhalten. E.T.A. Hoffmann hat sehr häufig vom Punsch gesprochen und auch andere Autoren dieser Zeit. Es ist ein spirituelles Getränk. Es ist auch ein typisches Wintergetränk natürlich und beim Genuss dieses Punsches kann man durch den spirituellen Geist auch eine Grenze überschreiben in eine Fantasiewelt. Das ist bei E.T.A. Hoffmann der Fall. Also die Punschgesellschaft landet in höheren Sphären, zumindest diejenigen, die bereit dafür sind."
"Crystal Speed des Biedermeiers"
Und bereit sind sie, die Punschrundengäste in E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der goldene Topf". Allesamt geraten sie durch das bewusstseinserweiternde Getränk völlig außer sich.
"'Salamander – Salamander bezwingt sie alle - alle', brüllte der Konrektor Paulmann in höchster Wut; '- aber bin ich in einem Tollhause? bin ich selbst toll? – was schwatze ich denn für wahnsitziges Zeig? – ja ich bin auch toll – auch toll!' – Damit sprang der Konrektor Paulmann auf, riss sich die Perücke vom Kopfe und schleuderte sie gegen die Stubendecke, dass die gequetschten Locken ächzten und, im gänzlichen Verderben aufgelöst, den Puder weit herumstäubten. Da ergriffen den Stundent Anselmus und der Registrator Heerbrand die Punschterrine, die Gläser und warfen sie jubelnd und jauchzend an die Stubendecke, dass die Scherben klirrend und klingend herumsprangen."
Angesichts dieses orgiastischen Punschexzesses ist nachvollziehbar, warum der Literaturwissenschaftler Bernhard Setzwein Punsch als das "Crystal Speed des Biedermeiers" bezeichnet.
Politische Speisen bei Heinrich Heine
Doch Essen und Trinken dienen in der Literatur nicht nur Völlerei und Amüsement. Es kann auch mit einer politischen Aussage versehen werden, vor allem, wenn sie seinem Autor in unverschlüsselter Form nicht möglich ist. Heinrich Heine sieht sich wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen Ansichten in Preußen Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Anfeindungen ausgesetzt. Seine Texte werden zensiert. Dessen überdrüssig, übersiedelt Heine 1831 nach Paris. Sein Verhältnis zu dem Land, in dem der Autor, engagierte Journalist und Polemiker aufgewachsen ist, bleibt jedoch zwiegespalten. Und das zeigt sich auch in Heines Beschreibung zu typisch deutschen Speisen, etwa durch den Erzähler seines berühmten "Wintermärchens":
"Der Tisch war gedeckt. Hier fand ich ganz
Die altgermanische Küche.
Sei mir gegrüßt, mein Sauerkraut,
Holdselig sind deine Gerüche!
Gestovte Kastanien im grünen Kohl!
So aß ich sei einst bei der Mutter!
Ihr heimischen Stockfische, seid mir gegrüßt!
Wie schwimmt ihr klug in der Butter!
Jedwedem fühlenden Herzen bleibt
Das Vaterland ewig teuer -
Ich liebe auch recht braun geschmort
Die Bücklinge und Eier.
Wie jauchzten die Würste im spritzenden Fett!
Die Krammetsvögel, die frommen
Gebratenen Englein mit Apfelmus
Sie zwitscherten mir: Willkommen!
Willkommen, Landsmann – zwitscherten sie –,
Bist lange ausgeblieben,
Hast dich mit fremdem Gevögel so lang
In der Fremde herumgetrieben!"
Sentimentalität trifft Spott
"Dieses Gedicht stammt ja aus dem Wintermärchen und das ist die letzte Reise Heines aus dem Pariser Exil nach Deutschland gewesen. Dieses Gedicht zeigt sehr gut das Verhältnis Heines zu seiner Heimat", erläutert Literaturwissenschaftlerin Tanja Rutdke. "Zum einen ist er hier sehr sentimental. Er denkt an die Küche seiner Mutter. Aber auf der anderen Seite kann er auch das spotten nicht lassen. Er redet nur mit dem Essen und nicht mit Personen. Und auch die Art und Weise, wie er übers Essen spricht, die ist doch sehr zwiespältig. Hier geht es vor allem auch um das Vaterland und die politischen Zustände."
Dieser für Heine typische ironische Kippmoment wird vor allem im zweiten Teil des Gedichts deutlich:
"Es stand auf dem Tische eine Gans,
Ein stilles, gemütliches Weisen.
Sie hat vielleicht mich einst geliebt,
Als wir beide noch jung gewesen.
Sie blickte mich an so bedeutungsvoll,
So innig, so treu, so wehe!
Besaß eine schöne Seele gewiß,
Doch war das Fleisch sehr zähe.
Auch einen Schweinskopf trug man auf
In einer zinnernen Schüssel;
Noch immer schmückt man den Schweinen bei uns
Mit Lorbeerblättern den Rüssel."
Tanja Rudtke: "In der letzten Strophe taucht ein Schweinskopf auf, dem man mit Lorbeerblättern den Rüssel schmückt. Hier kann man davon ausgehen, dass Heine sicherlich kein Gericht meint, das er gerne isst, sondern dass hier bestimmte Menschen aus seiner Heimat gemeint sind. Man kann sich vorstellen, dass es sich um die sogenannten Tendenzpoeten handelt und zwar nämlich genau die Dichter, die ihr Werk in den Dienst des Staates stellen, also das, was er eben nicht macht. Heine war ein politischer Dichter, aber er hat sich nicht vereinnahmen lassen. Deswegen wurden ja seine Bücher zensiert und verboten. Aber es gab neben Heine natürlich auch deutsche Dichter, die dem Nationalstaat, dem Nationalgefühl, dem Konservativen sehr verhaftet waren und gegen die ist diese Strophe gerichtet. Der Schweinskopf, den man in Deutschland ehrt mit Lorbeerblättern, das sind die Tendenzpoeten. Da sehen, wir, dass diese Zeilen doch sehr viel politische Brisanz haben, obwohl sie so harmlos daherkommen mit einfachen Essmetaphern."
Prunk und Fäulnis bei Thomas Manns Buddenbrooks
Ebenso einfach wie verhängnisvoll gestalten sich auch die dekadenten Festbankette bei Thomas Manns weltbekannten Buddenbrooks. Ihre überbordenden Mahlzeiten symbolisieren Status und Wohlstand der Lübecker Kaufmannsfamilie. Neben der opulenten Speisenmenge und -abfolge komplettieren bei jedem Fest eine prunkvolle Raumausstattung und ein Meißner Porzellan-Service mit Goldrand die großbürgerliche Selbstdarstellung. Doch gerade gegen Ende des Generationenromans, wenn es mit Geschäft wie Stammbaum bergabwärts geht, zeigen einzelne Figuren ein äußert auffälliges Essverhalten. So dominiert zwar weiterhin ein Hang zur Maßlosigkeit dominiert das Buddenbrook’sche Weihnachtszeremoniell im Jahr 1869. Dem Fisch folgt Puter, gefüllt mit einem Brei von Maronen, Rosinen und Äpfeln, dazu gebratene Kartoffeln, zweierlei Gemüse, zweierlei Kompott und alter Rotwein von der Firma Möllendropf. Genießen aber kann das der jüngste Spross der Familie das Essen nicht wirklich.
"Der kleine Johann saß zwischen seinen Eltern und verstaute mit Mühe ein weißes Stück Brustfleisch nebst Farce in seinem Magen. Er konnte nicht mehr soviel essen wie Tante Thilde, sondern fühlte sich müde und nicht sehr wohl; er war nur stolz darauf, dass er mit den Erwachsenen tafeln durfte, dass auch auf seiner kunstvoll gefalteten Serviette eins von diesen köstlichen mit Mohn bestreuten Milchbrötchen gelegen hatte, dass auch vor ihm drei Weingläser standen, während er sonst aus dem kleinen, goldenen Becher, dem Patengeschenk Onkel Krögers, zu trinken pflegte. […] Aber als dann, während Onkel Justus einen ölgelben, griechischen Wein in die kleinsten Glase zu schenken begann, die Eisbaisers erschienen – rote, weiße und braune – wurde auch sein Appetit wieder rege. Er verzehrte, obgleich es ihm fast unerträglich weh an den Zähnen tat, ein rotes, dann die Hälfte eines weißen, musste schließlich auch von den braunen, mit Schokolade-Eis gefüllten, ein Stück probieren, kusperte Waffel dazu, nippte an dem süßen Wein und hörte auf Onkel Christian, der ins Reden gekommen war."
Essen als Lust- und Leidquelle
Literaturwissenschaftlerin Tanja Rudtke sieht im Essverhalten des kleinen Johann, genannt Hanno, auch einen Spiegel für seine psycho-soziale Konstitution, pars pro toto für das Schicksal seiner gesamten Familie: "An Hanno zeigt sich, was hier überhaupt für die ganze Familie schon gilt. Auf der einen Seite gehört es zur Familientradition der wohlhabenden Kaufmannsfamilie, dass man sehr viel isst, dass man Gutes isst, dass man sich etwas gönnt. Aber das artet bei den Buddenbrooks in eine Art Völlerei aus, man isst mehr als einem gut tut. Und das macht eben auch der kleine Hanno und hier zeigt Thomas Mann diese Verfallstendenzen. Die Familie, die im Abstieg begriffen ist. Das heißt auf der einen Seite ist noch der Wohlstand angedacht, auf der anderen Seite wird aber klar, dass es hier schon Auflösungserscheinungen gibt. Dass man davon krank wird, von diesem vielen Essen, und trotzdem nicht davon lassen kann."
Und ausgerechnet das Süße ist es, von dem Hanno nicht lassen kann, obgleich es ihm fast unerträglich weh tut an den Zähnen. Um deren Zustand ist es bekanntlich in der gesamten Familie nicht gut bestellt. Hannos Vater Thomas Buddenbrook stirbt letztlich an einer misslungenen Zahnbehandlung. Und wenn das Süße in der Beschreibung dieses letzten Weihnachtsfestes im Roman also ohnehin überhandnimmt, trifft der schlaraffische Überfluss eine empfindliche körperliche Schwachstelle der Kaufmannsdynastie. So bleibt das Essen und Trinken eine besondere Lust- und Leidquelle der menschlichen Existenz, auch in der Literatur.