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Festival "Projeto Brasil"
Die Dynamik der brasilianischen Protestbewegung

Auch unter der Übergangsregierung kommt Brasilien nicht zur Ruhe: Ein Minister nach dem anderen tritt wegen Korruptionsvorwürfen zurück. Und das wenige Monate vor dem Beginn der Olympischen Spiele. Die aktuelle politische Situation beunruhigt auch viele Choreografen und Tänzer des Festivals "Projeto Brasil".

Von Änne Seidel | 19.06.2016
    Tänzer des Projeto Brasil auf einem verschwommenen Foto.
    Tänzer des Projeto Brasil (dpa / picture alliance / Sebastian Kahnert)
    Sie kommen näher, noch näher. So nah, dass schließlich nur der Sprung zur Seite bleibt. Dann entfernen sie sich wieder, nehmen den nächsten Zuschauer ins Visier.
    "Sie" – das ist eigentlich eher ein "Es": ein Klumpen aus menschlichen Gliedmaßen – in der Dunkelheit ist kaum zu erkennen, wo ein Tänzer aufhört und der andere beginnt. Eng aneinandergeschmiegt schieben sie sich im Pulk durch den Saal, umkreisen und berühren die Zuschauer, die Teil der Performance sind und sich entscheiden müssen: Die Berührungen zulassen, oder ausweichen?
    Die Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden – um die geht es dem brasilianischen Choreografen Marcelo Evelin in dieser Performance.
    "Die Globalisierung schreitet immer weiter voran, wir haben heute viel mehr Kontakt zu anderen Kulturen als früher. Und trotzdem haben wir weiterhin Angst vor dem Fremden. Dieser Widerspruch beschäftigt mich in meiner künstlerischen Arbeit. Ich denke, die zeitgenössische Kunst ermöglicht es uns, Gemeinschaft erfahrbar zu machen, das ist es, was mich zurzeit sehr interessiert."
    Marcelo Evelin verbringt viel Zeit in Europa, die hiesige Debatte um die Flüchtlinge ist ihm gut bekannt und mag ihn inspiriert haben. Trotzdem wäre seine Arbeit nicht denkbar ohne seinen brasilianischen Background – meint die Tanzwissenschaftlerin Christine Greiner, auch sie zu Gast beim Festival "Projeto Brasil":
    "Die Arbeiten aller Choreografen dieses Festivals sind sehr eng verbunden mit dem Kontext, aus dem sie kommen. In der Choreografie von Marcelo Evelin sind alle Tänzer schwarz angemalt, sodass sie in der Dunkelheit verschwinden. Wie kann man da nicht an die Unsichtbarkeit der Schwarzen in der brasilianischen Gesellschaft denken? Und das ist eine sehr wichtige politische Fragestellung."
    Tanz und politisches Engagement – für Marcelo Evelin war das schon immer untrennbar miteinander verbunden. Gerade in einem Land wie Brasilien hält er die politisch motivierte Kunst für unverzichtbar.
    "Brasilien ist ein riesiges, extrem vielfältiges Land. Ein Land mit Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlicher sexueller Orientierung. Die Künstler in Brasilien haben immer für die Idee der Gleichheit gekämpft. Die Kunst eröffnet einen Raum für politisches Denken und deshalb ist sie auch jetzt gerade wieder so wichtig in Brasilien."
    "Ein Putsch gegen die Demokratie"
    Die aktuelle politische Situation in Brasilien beunruhigt nicht nur Marcelo Evelin, sondern auch viele andere Choreografen und Tänzer des Festivals. Gemeinsam haben sie ein Manifest aufgesetzt. Darin fordern sie den Rücktritt der Übergangsregierung und die Rückkehr von Präsidentin Dilma Rousseff.
    "Die Lage ist sehr ernst. Das war ein Staatsstreich, ein Putsch gegen die Demokratie. Für eine junge Demokratie wie die brasilianische ist das dramatisch. Und die Übergangsregierung zerstört jetzt in kürzester Zeit viele Errungenschaften der brasilianischen Gesellschaft", klagt die Choreografin Lia Rodrigues. Sie fürchtet um die sozialen Programme, die unter Präsident Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Rousseff umgesetzt wurden und den ärmeren Schichten der brasilianischen Bevölkerung zu Gute kamen. Zwar sei auch unter Dilma Rousseff nicht alles gut gewesen, gibt Rodrigues zu, aber immerhin war sie demokratisch gewählt.
    Choreograf Marcelo Evelin sieht das ähnlich. Die Politik der Übergangsregierung steht im Widerspruch zu seinen Überzeugungen und zu dem, wofür er mit seiner Kunst einsteht.
    "Zu den ersten Handlungen dieser illegitimen Regierung gehörte, das Kulturministerium aufzulösen, wegen der Proteste wurde das dann aber wieder rückgängig gemacht. Außerdem wurden alle Frauen von den wichtigen Posten entfernt, und überhaupt hat sich die Regierung gegen alle Minderheiten positioniert. Sie positioniert sich gegen all das, was mit großer Anstrengung in den letzten Jahren etabliert wurde, seit Lula damals an die Macht kam."
    Dennoch: Die Künstler des Festivals sehen auch etwas Positives in der aktuellen Krise. Immerhin habe sie gezeigt, wie dynamisch die brasilianische Protestbewegung ist und dass die Brasilianer bereit sind, für ihre Demokratie auf die Straße zu gehen. Und die, verspricht Marcelo Evelin, werden sie so schnell nicht wieder verlassen.
    "Wir werden weiter kämpfen. Wir werden, hoffe ich, die öffentlichen Gebäude weiterhin besetzen, dort diskutieren, Vorstellungen geben, unterrichten. Das ist eine Möglichkeit, zusammen zu sein, stark zu sein, und einen demokratischen Raum zu schaffen. Wir werden nicht zulassen, dass uns unsere Demokratie geraubt wird."