Mittwoch, 24. April 2024

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Festival „Urbäng!“
Jenseits der Echokammern

Zehn Minuten ohne Netzverbindung als performative „Challenge“, ein Crashkurs in Gebärdensprache, Gesichter von Vergessenen in ukrainischen Seniorenheimen: Experimentell und vielfältig fragt das Kölner Festival „Urbäng!“, was die Bürger aktuell ausmacht. Und es will sie zur Teilnahme animieren.

Von Peter Backof | 08.10.2019
Menschen am Seil
65 Meter lang ist das dicke Seil zur Performance "Invited" (Danny Willems)
Vier Performer - gemischt männlich, weiblich - haben die Hände durch Löcher in Türen gesteckt und gestikulieren. Eine Szene aus dem Stück "Jeden Gest" von "Nowy Teatr" aus Warschau. Witzig!, verspricht Veranstalter Jörg Fürst von "Freihandelszone", weil das Kauderwelsch ohne Worte erstmal unverständlich für das Publikum bleibt: "Die treiben das auf die Spitze, machen sogar Poetry-Slam in Gebärdensprache. In diesem Projekt geht es um Kommunikationsfähigkeit jenseits von Sprache, jenseits von Worten."
Mitnahmeeffekt: Das Stück aus Warschau muss nicht synchronisiert oder übertitelt werden. Beim Besucher bleiben bestimmte Gesten, Eigenheiten, die Körpersprache der - tatsächlich gehörlosen - Performer hängen. Aber – damit es nicht bei Pantomime als Eindruck bleibt - gibt es vor dem Eröffnungsstück des Festivals "Urbäng!" zumindest einen Crashkurs in Gebärdensprache. "Was interessant ist auch: Diese Gebärdensprache führt uns ja wieder auf eine Kommunikationsfähigkeit zurück, die auch an die Wurzeln des Theaters führt."
Das Körperliche, das physisch auf der Bühne Präsente - und auch über die Bühne hinaus: Das ganze Gelände rund um die Kölner "Orangerie" ist für das Festival präpariert. Als urbaner Dschungel mit Hunderten von Pflanzen, mit Feuertonnen und wetterfesten Unterstellmöglichkeiten. Ein Kreativcamp und offenes Forum erhoffen sich Jörg Fürst und die Mitveranstalter von "Freihandelszone": "Knapp zehn Prozent der Leute gehen überhaupt nur ins Theater. Das ist halt unser Anspruch, Einladung auszusprechen, die den `Expertenkreis` des Theaterpublikums möglichst erweitert. Aber oft ist dieser Anspruch eine leere Worthülse. Also wir arbeiten da jetzt seit drei Jahren dran, und das ist wirklich ein dickes Brett."
Vielleicht hilft ein dickes Seil? Dieses kommt - aus Stoff und 65 Meter lang! - zum Einsatz in der Meta-Performance "Invited" von der Kompanie "Ultima Vez" aus Brüssel. Wieder ein Stück aus Gesten, mit seltsamen Codes: Im Publikum stehen plötzlich Menschen auf und ziehen andere hinein in die Performance. Das Riesenseil ist dabei Sitzgelegenheit und verändert ständig seine Form. Das Seil ist auch ein starkes Bild: Der Gen-Strang dieser Gesellschaft im Kleinen?
Recherche in urkainischen Seniorenheimen
Jörg Fürst über "Ultima Vez": "Die haben in dem sogenannten Problemstadtteil Molenbeek in Brüssel - wo auch die Islamisten herkamen, die die Anschläge damals in Paris verübt haben -, ein Labor gegründet. Da bieten sie Workshops an. Und `Invited` ist eine dieser Produktionen, die dort entstanden sind. Also ich selber bin jetzt kein Fan von Mitmachtheater, aber zum Beispiel diese Produktion 'Invited' aktiviert einen irgendwie. Man wird da wie in so einem Sog eigentlich reingezogen. Alle Produktionen vereint eigentlich, dass sie das Phänomen der gesellschaftlichen Vielfalt und der sozialen In- und Exklusion thematisieren."
Wie "Herbst auf dem Pluto" von Sashko Brama, ein Maskentheaterstück, das auf einer Recherche in Seniorenheimen in der Ukraine basiert. Zu sehen sind - ganz poetisch - überlebensgroße Köpfe alter Menschen, und zu hören, was aus ihren Lebensträumen geworden, beziehungsweise nicht geworden ist. Daneben im Programm: Die eher knackigen, pointierten Inhalte, an denen man gesellschaftlich aktuell nicht vorbei kommt: "Female Gaze?", der weibliche Blick, bewusst mit Fragezeichen formuliert. Wie kann es denn sein, dass #MeToo sogar kontraproduktiv und nachteilig für Frauen wirkt? Bis zur ultimativen "Challenge" für Vernetzte: es in einer aggressiv-weißen Gummizelle mal zehn Minuten offline auszuhalten.
Abgeschlossen in Echokammern
Jörg Fürst: "Ein Problem ist heutzutage, dass die Foren, wo man sich persönlich begegnet, schwinden, also dass viele Leute sich in Echokammern abschließen, sprich im Internet, in Facebook-Gruppen und so weiter. Man wird in der eigenen Meinung immer weiter bestätigt, es findet aber kein Diskurs statt."
Dagegen also: Sattes Programm! Ob es mehr als "die üblichen zehn Prozent" anlockt? Das Festival wird es zeigen.