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Feuer im Reaktorkern

Vor 50 Jahren wurde deutlich, wie risikoreich Atomtechnik sein kann. Aus Routinearbeiten am Windscale-Reaktor in der englischen Grafschaft Cumbria entwickelt sich die bis dahin größte Kernkraft-Katastrophe des Westens. Laut offiziellen Schätzungen starben bis zu 40 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Havarie.

Von Agnes Steinbauer | 07.10.2007
    Es ist der 7. Oktober 1957: in der Atomanlage Windscale in Nord-West England nahe der Irischen See ein Tag wie jeder andere - mit einer kleinen Ausnahme: Es stehen Wartungsarbeiten an. Die Graphithülle im Kern von Reaktor 1 soll ausgeheizt werden, eine wichtige Sicherheitsmaßnahme, um überschüssige Energien zu entladen. Bedingt durch den Neutronenbeschuss aus den Uranbrennstäben und die Veränderung der Graphitstruktur, die damit einhergeht, bauen sich diese unkontrollierbaren Energien immer wieder im Material auf. Dieses Phänomen ist bei Inbetriebnahme der ersten Militär-Reaktoren Großbritanniens, die ab 1950 Plutonium für die britische Bombe produzierten, noch unbekannt. Dementsprechend wusste niemand, wie der Ausheizprozess genau funktionierte. Die Sicherheitsingenieure hatten den Graphitmoderator schon ein paar Mal erfolgreich "nach Gefühl” erhitzt. Diesmal allerdings verursachten die freihändigen Wartungsarbeiten einen der schwersten Störfälle der Kernkraftgeschichte:

    Zum Ausheizen des Graphitkerns werden die Gebläse des luftgekühlten Atommeilers abgeschaltet. Zunächst fällt die Temperatur. Der Reaktor wird deshalb weiter angeheizt. Als die Temperatur ungewöhnlich ansteigt, stoppen die Sicherheitsingenieure den Vorgang nicht. Sie vermuten defekte Messinstrumente, dass nicht sein kann, was nicht sein darf: Dieses Phänomen kennt der Reaktorexperte beim Ökoinstitut Darmstadt, Michael Sailer, auch aus späteren Phasen der Kernkraftgeschichte:

    "Man hat 1987 bei einem Störfall in Biblis, als ein notwendiges Ventil nicht geschlossen hat, hat man nicht geglaubt, dass die Anzeige "Ventil steht offen" wirklich bedeutet: Das Ventil ist offen. Der Unfall in Harrisburg 1979 ist ja auch von eklatanten Fehlinterpretationen von Anzeigen geprägt."

    Erst als am Abluftkamin von Windscale ungewöhnlich hohe Radioaktivitätswerte gemessen und außerhalb der Anlage zehnfach erhöhte Strahlenwerte festgestellt werden, merkt die Betriebsmannschaft langsam, dass etwas nicht stimmt. Drei Tage nach Beginn der scheinbar harmlosen Routinearbeiten entdecken die Techniker Feuer im Reaktorkern, das erst 16 Stunden später in einem hochriskanten Manöver gelöscht werden kann.

    Bei der Nuklearhavarie wurden nach offiziellen Angaben radioaktive Stoffe in der Größenordnung von 20.000 Curie über Europa freigesetzt. Im Vergleich zu geschätzten 50 bis 250 Millionen Curie nach dem Supergau in Tschernobyl scheint das wenig. Auf der siebenstufigen Skala der Internationalen Atomenergiebehörde kam Windscale aber immerhin auf Platz fünf. Eine Evakuierung der Bevölkerung hielt die britische Regierung damals nicht für nötig. Lediglich der Verkauf von Milch aus der Umgebung wurde verboten.

    Nach offiziellen Schätzungen starben bis zu 40 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Havarie. Untersuchungen ergaben, dass in den vergangenen Jahrzehnten bei der örtlichen Bevölkerung deutlich mehr Leukämiefälle auftraten als im Landesdurchschnitt. Kurz nach dem Unfall wurden die Reaktoren versiegelt und stillgelegt.

    Heute heißt die Anlage Sellafield. Auf dem Gelände gibt es unter anderem zwei Wiederaufarbeitungsanlagen, die wiederholt wegen ihrer Einleitungen in die Irische See in die Schlagzeilen gerieten. Seit dem Brand des Windscale-Reaktors wurden über 300 Störfälle bekannt, der letzte größere im Mai 2005. Noch heute gehören die britischen Anlagen zu den Atom-Dinosauriern Europas. Die meisten sind über 40 Jahre alt:

    "Was man aber sagen muss: Windscale ist ja heute weniger bekannt wegen der Reaktoren, die die Unfälle gemacht haben, als wegen der Wiederaufarbeitungsanlagen, die dort stehen. Sellafield, wie es heute heißt, hat eine extrem hohe Menge radioaktiver Stoffe in die Irische See entlassen. Es ist die Stelle, wo bis jetzt weltweit am meisten Radioaktivität in die Umgebung gelangt ist."