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Fiktion und Wirklichkeit

Wenn ein Debütroman gleich auf Platz eins der Bestsellerliste der "New York Times" auftaucht, werden damit hohe Erwartungen auch ans zweite Buch geweckt. In ihrem gefeierten Romanthriller "Der Historiker" verband die Amerikanerin Elizabeth Kostova Fakten und Fiktionen um die Figur des blutrünstigen Draculas; jetzt wendet sich die Autorin den höheren Sphären der Kunst zu.

Von Sabine Peters | 16.04.2010
    In ihrem neuen schwergewichtigen Schmöker "Die Schwanendiebe" bricht der Psychiater Andrew mit allen Regeln seines Berufsstandes, um einem Patienten beizustehen: Robert, ein bekannter Maler, hat versucht, in einem Museum ein impressionistisches Bild der Leda mit dem Schwan zu zerstören. Nach ein paar rätselhaften Andeutungen hüllt er sich dem Psychiater gegenüber in Schweigen, aber er malt. Immer wieder entstehen Bilder einer rätselhaften Frau. Andrew übernimmt die Rolle eines Detektivs, der mit Roberts Exfrau Kate und mit seiner verflossenen Geliebten Mary spricht. Seine Recherchen führen ihn quer durch Amerika, später nach Mexiko und Frankreich. Ein Plot, so richtig aus dem Arbeitsalltag eines Psychiaters gegriffen.

    Kostovas Roman bleibt dabei nicht in der Gegenwart, sondern taucht überdies in das ausgehende neunzehnte Jahrhundert ein: Robert trägt die Briefe der impressionistischen Malerin Beatrice bei sich, deren Bilder sogar im berühmten Pariser Salon ausgestellt wurden. Warum gab sie ihre Arbeit seinerzeit abrupt auf, und was hat Robert mit dieser Frau zu schaffen, die immerhin hundert Jahre vor seiner Zeit lebte? Wessen Bild malt er wohl immer wieder? Man ahnt es wohlig schaudernd: Hier waltet Liebe, und zwar in der Form der Obsession. Der anscheinend geisteskranke Robert "betrügt" seine realen Frauen Kate und Mary mit der längst verstorbenen Beatrice, denn er hat ihr Geheimnis erraten - selbstverständlich hatte auch sie eine leidenschaftliche und überdies verbotene Liebesaffäre. Kunst, Liebe und Wahnsinn - aus diesen bewährten Zutaten sind "Die Schwanendiebe" zusammengestrickt.

    Kostava führt ihre Leser an der langen Leine durch ihren üppigen, ausschweifenden Roman. Leider kann sie ihre Stofffülle nicht immer bändigen: Einige nachdenkenswerte Motive werden angedeutet, allerdings nicht weiterverfolgt; die Autorin bleibt lieber bei Schilderungen, die einen sicheren "Wohlfühlfaktor" versprechen. Schrecken und Wonnen einer amerikanischen Mittelstandsidylle werden anhand von Roberts Ehefrau Kate geschildert; sie will ganz einfach ein Kind, einen Versorger und einen Garten. Mary, seine Zeichenschülerin, gibt die emanzipierte, künstlerisch interessierte Frau. Entgeistert oder aber bestätigt liest man, wie sie schon am Frühstückstisch Blumentöpfe und fliegenübersäte Gardinen skizziert. Ironie sucht man in diesem Roman allerdings vergebens. Und so erklärt Robert seiner Schülerin, bevor die beiden ins Bett finden: Ihre Zeichnungen sind zwar nicht gut, aber sie leben; sprich, Mary hat eine in Großbuchstaben GABE. Auch Roberts "Schaffen" und die Briefe der genialen Beatrice bieten der Autorin reichlich Gelegenheit, in die Welt der Künstler einzutauchen.

    Detailliert beschreibt Kostava, welche Faszination von einer jungfräulichen Leinwand, vom Ölgeruch der Farben und vom Prozess des Malens ausgeht. Ein Großteil der Leser kennt diese Erfahrung nicht, aber der Reiz des Künstlerromans liegt ja gerade in seiner Wunscherfüllung, in der Illusion, in höhere Sphären vorzudringen: Wir schmücken uns mit Bildungselementen in Sachen Impressionismus, wir werden an die hohe Kultur, an das SCHÖNE angebunden. Das Beunruhigende, Inkommensurable von Kunst wird in Künstlerromanen dieser Art domestiziert, es wird konsumierbar und zugänglich: Wir alle sind Mary. Die berühmte selbstvergessene Konzentration; der Künstler, der mit seiner Arbeit ringt wie David mit dem Goliath; ein schlummerndes Talent, das wachgeküsst und in ehrlicher harter Arbeit weiterentwickelt wird - all diese Klischees und Stereotypen in den "Schwanendieben" unterhalten den Leser aufs Schönste. Hinzu kommt die bis zuletzt spannende, wenn auch teilweise an den Haaren herbeigezogene Kriminalgeschichte. Nach allerhand Längen bringt der Psychiater seinem dankbaren Patienten die Lösung eines hundertjährigen Erpressungsfalls. Daraufhin findet Robert zur Vernunft und darf als geheilt entlassen werden. Das ist nicht gerade plausibel, aber das schert einen in diesem märchenhaften Roman herzlich wenig. Andrew, auch er ein talentierter und doch bescheidener Freizeitkünstler, wird die schöne Mary heiraten, ein Kind ist bereits im Anmarsch, was will man mehr.

    Wie schon in dem Bestseller "Der Historiker" werden auch in den "Schwanendieben" Fiktion und Wirklichkeit verbunden: Einige Nebenfiguren zählen zu den Größen der französischen Impressionisten; die Hauptfiguren sind allerdings der Fantasie entsprungen und können also mit einem wild romantischen Schicksal versehen werden.

    Und die Sprache? Passt wie angegossen. Eine Inflation von Adjektiven dient wie in der Werbung als Blickfang: feiner heller Flaum auf Marys Armen, silbriger Flaum auf Andrews Brust. Seelenverformende Sünde. Schlanke Hände, kräftige Schultern. Tränennasse Wangen und sinnliche Münder. Das rutscht glatt herunter, und man liest diesen Roman schließlich nicht, weil das Verlangen nach Kunst auch die Sprache umfasste. Bücher wie "Die Schwanendiebe" zieht man sich lustvoll rein, weil sie nicht nur dem von Sinnen geratenen Robert so viel Sinn stiften. Dem Leser selbst wird eine am Ende doch gute, sinnvolle Welt serviert. Schurken werden enttarnt, und zumindest posthum waltet Gerechtigkeit. Das Schöne, Gute und Wahre siegt in der Kunst und im Leben, und die Welt macht weiter in Gestalt einer schwangeren Frau. Mit dieser Bestätigung aller Wünsche dürften auch die "Schwanendiebe" sehr erfolgreich werden.

    Elizabeth Kostova: Die Schwanendiebe. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Bloomsbury, 670 Seiten, 24,90 Euro