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Fiktive Figur

Lylod Jones schickt die bekannte angelsächsische Romanfigur "Mister Pip" auf eine tropische Insel. Doch entgegen der Erwartung konstruiert er eine schreckensreiche, anrührende Geschichte. Das mit dem Commonwealth Writers´ Prize ausgezeichnet Werk stand auch auf der Booker Prize Shortlist 2007.

Eine Besprechung von Hartmut Kasper | 02.06.2009
    Mister Pip hat es auf eine tropische Insel verschlagen, ein namenloses Eiland in der Nähe der Salomonen im Südwesten des Pazifiks. Pazifik und tropische Insel - wer nach diesen Stichworten im Lexikon der Phantasien blättert, sieht vielleicht ein Paradies mit dunkelhäutigen Menschen, die auf weißem Sandstrand flanieren und gelegentlich von einer Kokosnuss naschen.

    Einen "Mister Pip" verknüpft man mit derartigen Szenen zunächst nicht. "Mister Pip" - das macht anglophile Ohren so hellhörig, als würde man hierzulande von Doktor Faustus sprechen, von Josef K. oder Oskar Matzerath. Und sich einen dieser Heroen der deutschen Literaturgeschichte beim entspannten Segeln in der Karibik vorstellen. Mister Pip ist, wie man vielleicht weiß, der Held des Romans "Große Erwartungen" von Charles Dickens. Pip, der Waisenjunge, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und träumt davon, ein Gentleman zu sein. Er hilft einem entlaufenen Zuchthäusler, sich von seinen Ketten zu befreien. Später lebt er, finanziell von einem unbekannten Gönner unterstützt, in London. Am Ende erweist sich, dass dieser Gönner identisch ist mit dem geflohenen Zuchtshäusler, der, zu Geld gekommen, sich bei seinem damaligen Helfer revanchieren will.

    Die Hauptfigur des Romans "Mister Pip" heißt Mathilda Laimo, sie ist eine junge Schwarze, ein Teenager. Ihre Insel ist so paradiesisch nicht. Allmählich sickert ein Krieg in den Alltag der Insulaner ein, irgendwelche Regierungstruppen bekämpfen irgendwelche Rebellen, alle Weißen haben die Insel längst verlassen. Alle, bis auf den einen Mister Watts.

    Tom Watts lebt mit seiner schwarzen Frau in der Nähe von Mathildas Dorf. Manchmal sieht man ihn, wie er mit roter Clownsnase einen Karren hinter sich her zieht, auf dem seine Frau thront - eine durchaus imponierende Erscheinung, wie Mathilda findet: "Man sah ihren mächtigen Hintern und fürchtete um den Klositz."

    Dass Watts ein Weißer ist, fasziniert Mathilda: "Wir waren in der Überzeugung aufgewachsen, Weiß sei die Farbe aller wichtigen Dinge wie Eis, Aspirin, Bindfaden oder Mond und Sterne." Diesen weißen Mr. Watts soll Mathilda bald näher kennenlernen, denn er übernimmt den vakanten Posten des Lehrers.

    Da er aber alles andere als ein ausgebildeter Pädagoge ist, unterweist er seine Schutzbefohlenen in ganz eigener Art: Er liest ihnen Kapitel um Kapitel aus dem Roman "Große Erwartungen" vor.

    Und Schutz haben diese Kinder mehr als nötig. Der Krieg rückt näher. Hin und wieder sieht man fern über dem Meer die Helikopter der Soldaten, aus denen gefangene Rebellen gestürzt werden. Späher tauchen auf. Dorfbewohner schließen sich den Aufständischen an.

    Während der belebbare Saum der Insel schmaler wird, entfaltet sich vor den Ohren der Kinder das viktorianische England und bietet ihnen eine Gegenwelt. Die Magie dieses Andernorts zieht Mathilda mehr als ihre Klassenkameraden in den Bann, so sehr, dass ihre Mutter schließlich fürchtet, ihre Tochter dahin zu verlieren, an diese Welt und an ihren Protagonisten, Mathildas fiktiven Gefährten Pip.

    Also beginnt die Mutter, eine tief religiöse Frau, einen privaten Kreuzzug gegen den weißen Vorleser. Dabei ist Mister Watts kein pädagogischer Tyrann. Er lädt die Frauen des Dorfes zu Vorträgen in seine Schule ein und lässt sie von dem erzählen, was sie wissen. Und so erfahren die Kinder einiges über Fischköder und Teufel und darüber, dass Krabben mit ihrem meteorologischen Gespür besser zum Wettervorhersagen taugen als die Wettervorhersage aus dem Radio.

    Und der Krieg rückt näher (Seite 87):

    "Die Bet-Gruppe meiner Mutter zog immer mehr Leute an. Gott würde helfen. Wir müssten nur mehr beten. Beten war wie kitzeln. Früher oder später würde Gott nach unten schauen und nachsehen müssen, was ihn am Hintern juckte."

    Aber das fleißige Beten hilft nicht. Eines Tages sind die Soldaten da. Sie sammeln die Namen der männlichen Bewohner und stellen fest, dass einer fehlt. Wer nämlich ist jener Mister Pip, von dem sie reden hörten? Watts versucht den Irrtum aufzuklären, aber seine Erklärung, bei Pip handele es sich um eine fiktive Figur, beeindruckt die Soldaten nicht. Ein Name ist da, der schwebt nicht grundlos ein, ein Mensch muss dafür her.

    Die Soldaten beginnen ihre Inquisition. Sie verbrennen die Habseligkeiten der Dorfbewohner, bei ihrem nächsten Besuch ihre Hütten. Als sie zum dritten Mal erscheinen und sich wieder kein Mister Pip stellt, nehmen sie mit Mister Watts vorlieb. Sie zerhacken ihn mit der Machete und werfen seine Leichenteile den Schweinen vor; zur Ermahnung aller kreuzigen sie und foltern ein Kinde zu Tode, und als Matildas Mutter als Gottes Zeugin erklärt, dieser abgeschlachtete Mister Watts sei - ihren früheren Vorbehalten zum Trotz - nichts als ein guter Mensch gewesen, vergewaltigen die Soldaten sie strafweise.

    Schließlich fragt der Soldatenhauptmann Mathildas Mutter, welchen Preis sie zu zahlen bereit wäre, um eine Schändung und Erniedrigung ihrer Tochter zu verhindern. Da die Truppen ihr alles genommen haben bis auf das nackte Leben, bietet sie dieses an. Der Soldat akzeptiert. Die Mutter wird ermordet, und da sie keinen leichten Tod ausgehandelt hat, wird ihr auch kein leichter Tod gewährt.
    Und da ist es ihrer Tochter endlich, als wäre "der Welt jeder Sinn für Ordnung abhanden gekommen" (Seite 232). Selten hat eine Erzählung Idylle und Inferno so nahtlos verbunden, so spürbar gemacht, dass überall dort, wo das Erzählte schiere Komödie, restlose Tragödie ist, nur ein Künstler am Werk war, ein Wortführer, der seiner Welt gezeigt hat, wo es langgeht.

    Die besondere Kunst von Lloyd Jones dagegen scheint mir zu sein, dass er seine Geschichte laufen, dass er sie ihre Haken schlagen und Sprünge machen lässt, als wäre sie von dieser Welt. So rückt er alle Wohltaten wie Menschlichkeiten dem Leser eben so nah wie die Schrecken des Krieges. Und er gönnt dem Leser nicht einmal den Seelen erleichternden Protest gegen das Empörende. Mathilda überlebt, beinahe klaglos; Mathilda findet ihren Vater wieder, der als Arbeiter in Australien Fuß gefasst hat; Mathilda wird eine kluge Schülerin und ist auf dem besten Weg mit einer Arbeit über die Waisenkinder von Charles Dickens zu promovieren - aber siehe da, die Welt wird nicht heil darüber, auch wenn sie ihre fürchterlichste Entstellung abgelegt zu haben scheint.

    Erzählt wird die Geschichte übrigens von Mathilda selbst, und weder sich noch ihren Lesern gewährt sie viel Sentimentalität. Manches klingt kühl, wie eine Inventur der menschlichen Möglichkeiten; manches ratlos, und dann tut es gut, dass kein allwissender Erzähler herbei springt und Fragen beantwortet wie die, was man "mit Erinnerungen wie diesen beginnen soll. Es kommt einem unrecht vor, vergessen zu wollen." Und sie mutmaßt: "Vielleicht ist das der Grund, warum wir solche Dinge aufschreiben, damit wir weitermachen können." Erzählen als Auslagerung, als Entlastung, als Enteignung.

    Am Ende recherchiert die junge Frau, die Mathilda inzwischen geworden ist, die Lebensgeschichte von Mister Watts, klärt das Geheimnis seiner absonderlichen Kutschfahrten mit der Clownsnase im Gesicht.
    Und sie erkennt, was ihre eigene Lebensgeschichte auch ist: die Geschichte nicht etwa einer bloßen Lektüre, sondern einer Aneignung von Literatur. "Pip", sagt sie, "war meine Geschichte, obwohl ich ein Mädchen war und mein Gesicht schwarz wie die glänzende Nacht."

    Eine Geschichte, wie sie schreckensreicher und anrührender nicht hätte erzählt werden können.

    Lloyd Jones: Mister Pip. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008, Aus dem Englischen von Grete Osterwald, 320 Seiten, 19,90 Euro