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Film "Der Letzte der Ungerechten"
Ein Pragmatiker im Zentrum der Vernichtung

Der Rabbiner Benjamin Murmelstein überlebte das Ghetto Theresienstadt - um den Preis der Kollaboration. "Shoah"-Regisseur Claude Lanzmann setzt sich in dem Film "Der Letzte der Ungerechten" mit den Vorwürfen gegen Murmelstein auseinander und versucht ihn zu rehabilitieren.

Von Rüdiger Suchsland | 08.05.2015
    Claude Lanzmann (l) und Benjamin Murmelstein in einer Szene von "Der Letzte der Ungerechten"
    Claude Lanzmann (l) und Benjamin Murmelstein in einer Szene von "Der Letzte der Ungerechten" (Koch Media / dpa)
    "Ein Judenältester nach dem Krieg ist wie ein Dinosaurus auf der Autobahn. Er stößt überall an, bei Deutschen, bei Juden."
    Eine schillernde Figur. Ein Unzeitgemäßer. Ein kauziger Held, aber eben ein Held. Er hat dem Grauen ins Auge gesehen, er hat es nicht nur überlebt, sondern unbestritten vielen anderen Menschen das Überleben gesichert, ihnen, noch während die Maschinerie der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden auf Hochtouren lief, zur Flucht ins sichere Ausland verholfen. Zugleich hat er paktiert, gedealt mit Eichmann und seinesgleichen, hat in mancher Betrachtungsweise schwere Schuld auf sich geladen.
    "Ich habe überlebt, weil ich ein Märchen erzählen sollte. Das Märchen von dem Juden-Paradies Theresienstadt. Um dieses Märchen zu erzählen, haben sie mich gehalten."
    Benjamin Murmelstein, geboren 1905 in Lemberg, gestorben 1989 in Rom, aufgewachsen in Wien, Jude, ausgebildeter Rabbi und der einzige überlebende Judenälteste eines deutschen Vernichtungslagers im Zweiten Weltkrieg. Claude Lanzmann hat ihn 1975 interviewt, im Zuge der Arbeit an "Shoa", aber er hat das Gespräch dann nicht verwendet. Zu komplex, zu individuell ist Murmelsteins Geschichte. So begleicht Lanzmann mit diesem Film auch eine offene Rechnung, klärt Fragen, die er in "Shoa", "Sobibor" und dem "Karski-Report" nicht behandeln konnte.
    "Wenn Sie zeigen, dass Sie Angst haben, dann ist alles verloren."
    Kurz nach dem sogenannten Anschluss Österreichs im Sommer 1938 trat Murmelstein in die jüdische Verwaltungsorganisation ein und hatte dort schon bald direkt mit Adolf Eichmann zu tun.Im Zentrum der Vernichtung erwies sich Murmelstein als geschickter Pragmatiker, der eigene Möglichkeiten zur Flucht nicht nutzte und stattdessen die Auswanderung vieler österreichischer Juden organisierte, darunter sogar über Zug-Transporte 1940 und 1941 durch das besetzte Frankreich nach Portugal.
    "Nisko-Plan" als Blaupause für spätere Deportationen
    Lanzmanns Film fesselt gerade durch den Reichtum an solchen Details und einige bisher fast unbekannte Fakten. Zu denen gehört auch die Erinnerung an das heute fast vergessene Lager Nisko, der erste, schnell abgebrochene Versuch eines "Modell-Lagers" im polnischen Grenzgebiet zwischen verseuchten Sümpfen und knapp vor Winteranbruch. Im Oktober 1939 war dieser "Nisko-Plan" die Blaupause für alle späteren Deportationen und die Vernichtungslager, ein Experiment.
    Auch behauptet Murmelstein nachdrücklich, Eichmann habe persönlich bei den Zerstörungen der Wiener Synagogen und anderen Ausschreitungen im Rahmen der Novemberpogrome 1938 mitgewirkt - beim Jerusalemer Prozess hatte man Eichmann 1961 in diesem Punkt ausdrücklich entlastet.
    "Ich habe Eichmann gesehen, am 10. November, er ist in mein Büro eingedrungen mit dem Revolver in der Hand. Er war dort, er hat das Ganze kommandiert."
    Murmelsteins Geschichte führt ins Zentrum des moralischen Abgrunds: Zu der Frage, wie und ob die Opfer selbst gezwungenermaßen zu Beteiligten und Mittätern ihrer Ermordung wurden. Wie viel Schuld liegt im Überleben selbst?
    Menschliche Stärken und Schwächen
    Wie alle Filme Lanzmanns handelt auch dieser Film im Kern von menschlichen Schwächen und Stärken. Das Prinzip Lanzmann ist im Grunde sehr einfach: Zum einen zeigt uns dieser einmalige Filmemacher Gesichter. Gesichter, in denen alles erscheint. Der Tod. Der Terror. Das ganze Grauen, deren Zeugen diese Menschen wurden, das ihre Augen gesehen haben, dem diese Menschen selbst - eher durch ein Wunder, durch reinen Zufall - entkommen sind. Und dem sie doch nicht entrinnen können, weil es in der Erinnerung bestehen bleibt.
    Zum anderen liebt Lanzmann die, die handeln. Er respektiert diejenigen, denen es gelingt, aktiv zu werden mehr als diejenigen, die passiv bleiben. Und er interessiert sich für diejenigen, die den Mut haben, sich einer Situation auf Leben und Tod zu stellen, eine Entscheidung auf sich zu nehmen, in der es keine einfachen Antworten und Auswege gibt, in denen jede mögliche Entscheidung den Tod bedeuten kann. So wie bei Benjamin Murmelstein.
    Im Interesse für diese existenziellen Augenblicke, in denen sich ein Leben entscheidet, entpuppt sich Claude Lanzmann ganz als Erbe der Philosophie seines Lehrers, Freunde und Vorbilds Jean-Paul Sartre. Ein Existenzialist des Kinos.