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Film
Flucht übers Meer

Statt mit anderen Flüchtlingen in einem Boot versucht ein junger marokkanischer Fischer im Film "Atlantic" das gelobte Land Europa mit seinem Surfbrett zu erreichen. Jan-Willem van Ewijks poetischer Film erzählt aus einem ungewohnten Blickwinkel von der Migration - wie auch die senegalesische Produktion "Die Piroge" von Moussa Touré, zu sehen auf arte.

Von Hartwig Tegeler | 24.06.2015
    Der Blick, von oben auf das Meer, dazu die Stimme, die sagt, Ozean, ich fühle dich. Die Wellen, auf die wir aus großer Höhe schauen. Es ist, als ob ein Gemälde lebendig geworden wäre. Das sich rhythmisch bewegt, schwingt, immer wieder neu Facetten von sich enthüllt. Dann wechselt die Kamera aus der Vogelperspektive, begibt sich nach unten zum Wasser. Nun zeigt Jan-Willem von Ewijk die Totale des Ozeans, in dem sich - wiederum im Rhythmus der Wellen - ein kleiner schwarzer Punkt bewegt. Fettah. Ein Mann allein auf dem Meer in seinem Neoprenanzug auf seinem Surfbrett. Auf dem Weg nach Europa. Von der marokkanischen Atlantikküste auf dem Weg ins vermeintliche Traumland und zu der Frau, nach der sich der Held verzehrt.
    Fettah surft an den Strand, trinkt und isst etwas aus seinem kleinen Rücksack. Macht ein Feuer. Ein alter Mann kommt und setzt sich zu ihm. Willst du nach Casablanca?, fragt er. Nein, antwortet Fettah, noch weiter nach Norden. Dreihundert Kilometer über den offenen Ozean. Nach Europa. Weißt du, dass es da eine Militärzone gibt? Da kommst du nicht durch, sagt der alte Mann. Doch am Morgen steigt Fettah wieder auf sein Surfbrett und fließt hinein in die Weite des Ozeans.
    Fettah, der junge Fischer aus dem marokkanischen Küstendorf. Weil es die Windsurf-Touristen immer hierher, zu den Atlantikwellen gezogen hat, lernten Fettah und seine Kumpel im Dorf auch das Surfen; Fettah ist begabt; er tanzt mit seinem Brett auf den Wellen. Doch wenn die Surf-Gäste am Ende ihres Urlaubs wieder in die Heimat ziehen, lassen sie bei dem jungen Fischer eine Leere und ein Gefühl der Unzufriedenheit mit seiner Welt zurück. Als Alexandra, die Freundin eines holländischen Surfers, dann wieder abreist, kann Fettah die Enge nicht mehr ertragen. Er nimmt sein Surfbrett und macht sich auf die Reise. Entlang der Atlantikküste in Richtung Europa.
    "Atlantic" ist eine Meditation über eine Sehnsucht. Eine allerdings, die sich gegen die Realität reibt - auch die der Naturgewalt des Meeres. Fettah, der junge Mann und das Meer, der Mann auf dem unendlichen Meer, verloren und gleichzeitig angekommen in seinem Traum über die Weite. Natürlich erinnert die einsame Reise an Robert Redford als Segler allein auf dem Meer in "All Is Lost" oder an Sandra Bullock in Cuaróns "Gravity". Eine archaische Heldenreise, voller Gefahren, in einem unkalkulierbaren, magischen Raum. Eine auf Leben und Tod. Jan-Willem von Ewijk zeigt sie in magischen Bildern. Mal erzählt er in Rückblenden vom Leben im Dorf, dann sind wir wieder bei Fettah auf dem Ozean. Das Meer aber bleibt nicht ruhig. Denn das ist die Natur des Meeres, des schönen, des gewaltigen, des gewalttätigen.
    "Die Piroge" von Moussa Touré
    Der Fischer Baye Laye in Moussa Tourés ebenso eindrucksvollen und doch ganz anderem Film "Die Piroge" träumt von keiner Frau, wenn er sich mit den anderen aus dem Senegal aufmacht zu den Kanarischen Inseln. Nein, es geht um´s Überleben.
    Ich wusste nicht, dass du fährst. - Hier gibt´s keinen Fisch mehr. Alle anderen sind schon weg. Hier gibt es doch keine Zukunft, sagt Baye, der Fischer, der sich widerstrebend als Kapitän auf der Piroge anheuern lässt; 30 Männer und eine Frau in einem einfachen Motorboot, das gebaut ist für die Fischerei in küstennahen Gewässern. Und der Satz, den einer sagt, selbst, wenn der Wind unser Boot zerbricht, wir kommen heil an, es ist der Wunsch, der Traum, aber das Meer, es ist schön, es ist gewaltig, es ist gewalttätig.
    "Atlantic" von Jan-Willem von Ewijk und "Die Piroge", der Film des senegalesischen Regisseure Moussa Touré, erzählen aus unterschiedlichen Blickwinkeln von der Migration. Aber der meditative Blick in "Atlantic" und der politische in "Die Piroge", sie gehören zusammen, wenn wir etwas über die Menschen erfahren wollen, die Migranten, die Flüchtlinge, die Auswanderer, die Reisenden. Menschen kennenlernen, darum geht es auch im Kino.
    Hier ist es der Traum von einem besseren Leben, das die Geschichten von Fettah, dem Fischer aus Marokko, und Baye, dem Fischer aus dem Senegal, zusammen bindet. Und wovon sollte die Traummaschine Kino besser erzählen können als von solch einer Traumreise. Ob in einer betörenden Meditation über einen Menschen auf einem Surfbrett auf dem Meer. Oder mit der Geschichte einer nicht minder lebensgefährlichen Reise in einem Boot, das alles andere als seetauglich ist. Und natürlich - so sind diese Geschichten, die von unserem globalen Verhältnissen heute und gleichzeitig von etwas Archaischem berichten - gleitet der Traum sowohl in "Atlantic" wie auch in "Die Piroge" langsam über in den Albtraum. Am Ende schießt Fettah nicht mehr in einem wunderbaren Fluss der Bewegung auf seinem Surfbrett über den Ozean, sondern so wie Baye, Abou, Samba und die anderen landet auch er - allein allerdings - in einem Boot, das über´s Meer dümpelt. Das zu sehen, es ist eine Qual. Aber der Satz, den einer aus dem Boot in Moussa Touré Film "Die Piroge" sagt, er gehört auch zu Fettah in Jan-Willem van Ewijks melancholischem Drama "Atlantic":
    "Bald sind wir in Spanien. Im Paradies! - Da drüben ist kein Paradies! Sagt sein Freund."
    "Die Piroge" ist noch bis zum 1. Juli 2015 in der arte-Mediathek zu sehen.