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Film "In meinem Kopf ein Universum"
"Ich bin kein Gemüse, ich bin ein normaler Mensch"

Mateusz leidet seit seiner Geburt an einer Gehirnschädigung und kann seinen Körper kaum kontrollieren. Doch Mateusz kann alles um ihn herum verstehen. Am 9. April startet der Film "In meinem Kopf ein Universum"; Regisseur Maciej Pieprzyca beschreibt im Corso-Gespräch, wie aufwendig die Vorbereitung war.

Maciej Pieprzyca im Gespräch mit Adalbert Siniawski | 07.04.2015
    Anka (Anna Karczmarczyk) und Mateus (Dawid Ogrodnik) in einer Szene des Kinofilms "In meinem Kopf ein Universum".
    Anka (Anna Karczmarczyk) und Mateus (Dawid Ogrodnik) in einer Szene des Kinofilms "In meinem Kopf ein Universum". (picture alliance / dpa / MFA+ FilmDistribution e.K.)
    Adalbert Siniawski: Herr Pieprzyca, Ihr Film "In meinem Kopf ein Universum" beruht auf der wahren Geschichte des Jungen Przemek, der an einer zerebralen Bewegungsstörung leidet und nicht sprechen kann. Wie kann man sich die Vorgespräche zwischen Ihnen beiden vorstellen, gab es vorher Gespräche?
    Maciej Pieprzyca: Ja, natürlich. Damit hat alles angefangen. Przemek kommuniziert über das Bliss-Symbol-System – das zeigen wir auch im Film. Man verständigt sich mit Bildern. Es ist nicht leicht, sich so zu unterhalten. Ich habe die Bliss-Zeichen lernen müssen und habe etwa zehn Monate lang für diesen Film recherchiert. Ich musste das Thema kennenlernen, die Welt der Behinderten kennenlernen. Ich habe viele Menschen getroffen und viele Geschichten gehört. Die Geschichte von Przemek, den ich im Film Mateusz genannt habe, setzt sich aus den Erfahrungen von mehreren behinderten Menschen zusammen. Aber die Haupterzählung stammt von Przemek. Er hat mich zu diesem Film inspiriert. Und wir sehen ihn auch im Abspann des Films zusammen mit dem Hauptdarsteller, der ihn spielt.
    Siniawski: Kürzlich haben wir den britischen Schauspieler Eddie Redmayne in der Rolle des jungen Stephen Hawking gesehen. Das ist auch eine anspruchsvolle Rolle eines Behinderten im Rollstuhl. Warum ist das Thema Behinderung ausgerechnet jetzt so aktuell?
    Pieprzyca: Hauptdarsteller hat sich in Figur verwandelt
    Pieprzyca: Es ist schwer, zu sagen, ob das Thema wirklich aktuell geworden ist. Auch vorher gab es solche Filme wie "Mein linker Fuß" oder etwa "Schmetterling und Taucherglocke". Ich habe "Die Entdeckung der Unendlichkeit" gesehen und muss sagen: Unser Darsteller Dawid Ogrodnik spielt überzeugender – ich sage das als Regisseur, bei aller Wertschätzung für die Arbeit von Redmayne und seinen Film. Wissen Sie, einen behinderten Menschen glaubwürdig zu verkörpern, das ist nicht so einfach. Ich habe am Anfang selbst nicht gedacht, wie schwer das ist. Dawid Ogrodnik hat eine gigantische Arbeit geleistet. Er hat sich wirklich in die Figur verwandelt. Er musste sich mehrere Monate lang vorbereiten, um glaubwürdig zu werden. Wir haben das Ergebnis getestet. Wir sind auf einen Behindertenball gefahren. Und nur der Organisator des Balls wusste, dass Dawid ein Schauspieler ist – der Rest der Teilnehmer war ahnungslos. Wir wollten herausfinden, wie Menschen mit Behinderung auf ihn reagieren, ob sie ihn aufnehmen. Und wissen Sie was? Keiner von ihnen hat einen Unterschied bemerkt. Da haben wir gewusst, dass Dawid glaubwürdig ist und die Rolle spielen kann.
    Siniawski: Wenn man Dawid Ogrodnik sieht, wie er sich auf dem Boden wälzt, um sich fortzubewegen, wie er seine Hände und Beine gekrümmt hält, wie er im Gesicht zuckt und – sagen wir mal – fast animalische Laute von sich gibt – ist das schon genug, um sagen zu können, er spielt besser als Redmayne?
    Pieprzyca: Wie gesagt, Dawid hatte eine schwierigere Aufgabe und er machte eine glaubwürdigere Figur als Behinderter. Er ist wirklich zu einer Person mit Behinderung geworden. Er hat eine tiefergehende und glaubwürdigere Rolle geschaffen.
    Siniawski: Das Thema Behinderung – ist das ein Tabuthema in Polen? Sie haben an anderer Stelle gesagt, dass es schwer war, ausreichend Mittel für Ihren Film zu bekommen.
    Pieprzyca: Das liegt nicht daran, dass die Produzenten Menschen mit Behinderung persönlich ablehnen würden. Der Grund dafür ist, dass die Produzenten, die mit mir arbeiten wollten, gesagt haben: Einen behinderten Hauptdarsteller zwei Stunden auf der Leinwand sehen – wer will sich das antun? Das wird ein Nischenfilm für eine Handvoll Menschen. Ziemlich schwerer Stoff. Warum sollte man das drehen? Sie haben daran einfach nicht geglaubt. Deswegen habe ich versucht, einen Film zu machen, der ein ernstes Thema aufgreift, aber nicht traurig ist oder depressiv.
    Siniawski: Und genau das hat mir gefallen, dass Sie die Schwere der Behinderung sehr eindrücklich zeigen, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Wie schwierig war es, zu entscheiden, welche Facetten aus dem Leben eines Behinderten sie zeigen wollen – und vor allem: Wie man sie zeigen kann?
    Pieprzyca: Die lustigsten Witze über Behinderte kamen von Behinderten
    Pieprzyca: Das war anfangs mein Hauptproblem. Traurige und depressive Filme gefallen mir nicht sonderlich. Und hier kam die Inspiration von den Menschen mit Behinderung zum tragen. Denn als ich sie kennengelernt habe, stellte ich fest, dass sie einen guten Humor haben, dass sie eine große Distanz zu sich selbst haben – was uns, den sogenannten Gesunden, oftmals fehlt. Die lustigsten Witze über Behinderte habe ich von Behinderten selbst gehört. Und dann habe ich gemerkt: In diese Richtung soll es gehen. Unser Leben ist nun mal so, dass die heiteren und leichten Töne sich mit den ernsten vermischen.
    Siniawski: Ihr Film macht deutlich, dass Mateusz im Grunde ein Teenager ist, wie alle anderen Teenager in seinem Alter. Er guckt den Mädchen in den Ausschnitt, er träumt von der Liebe, er hat seine Meinung von den Menschen seiner Umgebung und seinen eigenen Humor.
    Pieprzyca: Diese Menschen haben die gleichen Probleme wie wir und die gleichen Bedürfnisse wie wir. Sie suchen auch nach Liebe, Sex, Freundschaft. Sie sind nicht immer gut drauf, sie sind manchmal auch genervt, neidisch, haben schlechtere und bessere Tage. So wie wir alle.
    Siniawski: Sie zeigen ganz genau, wie das Umfeld Mateusz diskriminiert. Die Ärzte sagen seiner Mutter, die an seine Fähigkeiten glaubt, ganz offen, dass es keinen Sinn macht, seine zerebrale Bewegungsstörung zu therapieren, weil er auch geistig behindert ist und "sabbert wie ein Hund". Selbst seine Schwester, die vielleicht etwas neidisch ist wegen der Zuneigung, die er von seiner Mutter bekommt, die Schwester also sagt, er ist ein Depp. Dabei kann er alles hören und verstehen. Wollen Sie uns damit zeigen, dass wir die Menschen mit Behinderung nicht unterschätzen und ihnen eine Chance geben sollten?
    Pieprzyca: Seine große Tragödie ist, dass er sich mit der Welt verständigen will und den Leuten zuschreien möchte: Ich bin kein Gemüse. Ich bin ein normaler Mensch, behandelt mich wie einen Menschen. Seht in mir nicht immer nur den Behinderten, schaut auf meine inneren Werte. Ich finde, das ist etwas ganz Universelles. Von der Idee her ist das ja ein Film über Kommunikationsprobleme, wie wichtig Kommunikation für uns ist und für das Verständnis eines anderen Menschen. Ich glaube, Kommunikationsprobleme haben nicht nur Menschen mit Behinderung.
    Siniawski: Die Verhältnisse im Behindertenheim sind sehr drastisch: Die Ärzte geben Mateusz Beruhigungsspritzen. Weil er sich beim Essen auf die Lippen beißt, ziehen sie ihm die Vorderzähne. Der Heimleiter sorgt sich mehr um den Dreck auf dem Boden als um die Leute auf der Station. Das ist skandalös.
    Pieprzyca: Nicht als Mensch angesehen
    Pieprzyca: Das ist die Folge dessen, dass er nicht als Mensch angesehen wird. Das Paradoxe an der Situation, dass ihm zwei Vorderzähne gezogen werden, ist, dass die Ärzte ihm eigentlich helfen wollen, weil er sich tatsächlich beim Beißen verletzt hat. Sie haben gar nicht daran gedacht, dass es eine andere Ursache dafür geben könnte, dass man zum Beispiel seine Liegeposition beim Füttern verändern müsste. Das ist das Paradoxe an der Situation! Und das alles kommt daher, dass man sich nicht mit ihm verständigen konnte.
    Siniawski: Vielleicht zu einem anderen Thema. In letzter Zeit sind Filme aus Polen immer mehr auch im Ausland zu sehen – zum Beispiel das Hip-Hop-Drama "Du bist Gott", der Film "Ida" von Pawel Pawlikowski, "Im Namen des ..." sowie "Body" von Malgorzata Szumowska, die bei der Berlinale einen Silbernen Bären gewonnen hat. Wie kam es dazu, dass sich der polnische Film plötzlich so gut im Ausland verkauft? Ist es eine neue Etappe, eine neue Generation von Filmemachern, eine neue Filmästhetik?
    Pieprzyca: Wissen Sie, da spielen viele Faktoren eine Rolle. Sicherlich ist es so, dass es einfacher ist, Filme zu finanzieren, seitdem wir das polnische Filmkunstinstitut haben. Seitdem entstehen mehr Filme. Und je mehr Filme entstehen, desto mehr gute Filme sind dabei. Das Niveau des polnischen Films ist seit einigen Jahren besser geworden. Das polnische Kino hat sich in den 90er-Jahren, oder auch früher, nicht weiter entwickelt. Nach Krzysztof Kieślowski hielt sich auch die Resonanz auf unser Kino im Ausland in Grenzen.
    Pieprzyca: Film ist so etwas wie die Visitenkarte unseres Landes
    Siniawski: Das Drama "Ida" von Pawlikowski ist der erste polnische Film, der in der Kategorie "Bester nicht-englischsprachiger Film" den Oscar gewonnen hat. Dabei hat es doch früher schon große Regisseure gegeben wie eben Kieslowski, Andrzej Wajda oder Agnieszka Holland. Warum hat es so lange gedauert?
    Pieprzyca: Es ist schwer, zu sagen, warum es so lange gedauert hat, weil ...
    Siniawski: ... ist es Ignoranz?
    Pieprzyca: Nein! Das ist immer der Souverän der Akademie, der entscheidet. Es hängt auch immer davon ab, mit welchen Film man gerade konkurriert. Große Chancen hatte Agnieszka Holland mit ihrem Film "In Darkness". Oder "Das Gelobte Land", der geniale Film von Andrzej Wajda, der war mal für den Oscar nominiert, der hatte auch große Chancen. Oder "Das Messer im Wasser" von Roman Polański war ja auch mal nominiert.
    Siniawski: Glauben Sie, dass diese Oscar-Auszeichnung jetzt das Ansehen des polnischen Films verändern kann oder die Möglichkeiten, Filme in Polen zu finanzieren?
    Pieprzyca: Wissen Sie, sicherlich kann so ein Preis die Aufmerksamkeit auf die Filmkunst eines Landes lenken. Deswegen denke ich, dass die Festivals in Europa und der Welt ihre Aufmerksamkeit auf das lenken werden, was sich im polnischen Film tut. Ich glaube, dass es so sein wird. Der Erfolg von "Ida" beflügelt natürlich andere polnische Regisseure und zeigt ihnen, dass es sich lohnt, hart zu arbeiten und gute Filme zu machen. Vielleicht entdeckt man uns ja und die Filme werden eine Chance in der internationalen Arena haben. Und hoffentlich startet das Kulturministerium dann Initiativen, um die Filmkunst noch mehr zu fördern. Denn der polnische Film ist jetzt so etwas wie die Visitenkarte unseres Landes in der Welt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.