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Film "Kidnapping Stella"
Klaustrophobisches Kellerspiel

"Kidnapping Stella" ist der erste deutsche Film, den der Streaming-Anbieter Netflix exklusiv herausbringt. Ein echtes Statement für Genrefilme: intensiv, brutal und packend. Schauspieler und Regisseur schwärmen von den neuen Möglichkeiten.

Von Julian Ignatowitsch | 11.07.2019
Die Schauspielerin Max von der Groeben, Jella Haase und Clemens Schick
Max von der Groeben, Jella Haase und Clemens Schick bei der Weltpremiere des Netflix Films Kidnapping Stella (www.imago-images.de (N. Kolinz / Future Image))
In ein paar Schritten kann einem die ganze Freiheit genommen werden.
Gerade noch läuft Stella auf der Straße, in Pumps und leopardengemustertem Mantel, vielleicht war sie gerade shoppen, als von hinten zwei Typen mit Phantommasken sie ergreifen, ihr eine Tüten über den Kopf stülpen und sie in einen Lieferwagen zerren. Und plötzlich liegt sie in einem schallisolierten Kellerraum, mit Handschellen ans Bett gekettet und kann sich kaum mehr bewegen.
Allein, isoliert, ein Albtraum. Der Film "Kidnapping Stella" zeigt eine Entführung so schonungslos, so nüchtern und präzise, dass man an vielen Stellen lieber wegschauen würde, es aber nicht kann, weil man ebenfalls gefangen scheint, als Voyeur in dieser brutalen Vierer-Konstellation: zwei Entführer, das Opfer, der Zuschauer.
Spannung bis zum Ende
In den ersten acht Minuten wird überhaupt nicht gesprochen. Dann…
"… wir brauchen die Email-Adresse von deinem Vater …"
… entspinnt sich ein klaustrophobisches Kammer- oder besser Kellerspiel: Erpressung, Geld, Macht, Gewalt, alte Bekannt- und Liebschaften, Zweifel …
Man fühlt sich stellenweise an "Funny Games" von Michael Haneke erinnert, einen der brutalsten Filme aller Zeiten, an "Room" oder "A Quiet Place", zwei innovative Genrefilme aus den vergangenen Jahren. "Kidnapping Stella" schafft es, die Spannung bis zum Ende aufrecht zu erhalten.
Die authentische Atmosphäre, auch das Ergebnis nervenaufreibender Dreharbeiten:
"Fünf Woche Brutalität, fünf Wochen wirklich auch Hass zwischen den Figuren ..."
… erinnert sich Schauspieler Clemens Schick, der den Entführer-Boss Vic kühl, berechnend, knüppelhart spielt. Intensität und Glaubwürdigkeit verdankt der Film - neben einem starken Drehbuch - vor allem dem hervorragenden Zusammenspiel von Schick, Max von der Groeben, dem zweifelnde Entführer-Komplizen Tom, und Jella Haase, als das geschundene Opfer Stella.
Menschliche Abgründe
"Wir haben uns gegenseitig physisch verletzt und haben uns das nicht übel genommen. Max hat mich ins Krankenhaus geschlagen und ich habe Max in einer der ersten Proben die Lippe so verletzt, dass man das nicht mehr wegschminken konnte."
Menschliche Abgründe, Schwäche, auch Empathie zeigt der Film, der erste deutsche Film, den Netflix exklusiv herausbringt.
"Eigentlich war der Film fürs Kino geplant und dann kam Netflix und wollte ihn zeigen", sagt Regisseur und Drehbuchautor Thomas Sieben. "Und für mich war klar, dass das der beste Platz ist, weil es ein Genrefilm ist, der gut ins Netflix-Portfolio passt und der Genre auch weltweit geguckt ist, im Gegensatz zum Beispiel zu einer deutschen Komödie, die es im Ausland schwerer hat."
Ohne FSK beeinflusst die Themenwahl und Machart
Dass Filme direkt bei Netflix landen und vorher gar nicht mehr (oder nur sehr kurz) im Kino laufen, ist seit dem vielfach prämierten "Roma" von Alfonso Cuarón oder "The Ballad of Buster Scruggs" von den Coen-Brüdern nichts neues mehr und hat seine Gründe vom Produktionsbudget bis hin zur Distribution. Regisseur Sieben glaubt aber auch, dass das Themenwahl und Machart beeinflusst:
"Ich glaube, dass ganz andere Geschichten möglich sind aus Deutschland. Deutschland ist ja bekannt für Krimis. Wenn man aber sagt, ich habe hier einen dreckigen Thriller, dann ist das viel schwieriger, den zu finanzieren, und da gibt es bei Netflix einen ganz anderen Ansatz. Das Programm ist immer abrufbar, man ist nicht an eine FSK gebunden."
Deutsche Serien wie "Dark", gerade mit Staffel zwei am Start, oder "How To Sell Drugs Online (Fast)" bringen genau diese neuen Erzähl- und Sichtweisen einer jungen Filmemacher-Generation mit.
Schauspieler Schick sieht es weniger idealistisch:"Netflix ist einfach ein Powerplayer, das ist toll, das merkt man. Deswegen startet wir am 12. Juli vor 140 Millionen Menschen. Das ist eine große Chance, je mehr Publikum umso besser!"
Packendes Kino-Drama im Stream
Kritik zu einer Monopolstellung der großen Streaming-Dienste, zu möglicher Einflussnahme auf oder Kommerzialisierung von Filmen und den Schwierigkeiten kleiner Kinobetreiber hört man wenig. Bei Filmen hat sich Netflix bislang noch nicht groß hervorgetan, Serien sind der Markenkern. "Kidnapping Stella" könnte da so etwas wie einen Kurswechsel andeuten. Denn so packendes, gut geschriebenes, stark umgesetztes und optisch ansprechendes Kino-Drama hat man aus Deutschland zuletzt nicht oft gesehen. Da kann man dann nur sagen: Gut, dass es Netflix gibt!