Donnerstag, 28. März 2024

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Film über Kinderbuchautorin
Wie Astrid Lindgren wurde, wer sie war

Mit 18 schwanger von einem verheirateten Mann, das Kind versteckt bei einer Pflegemutter – ein Skandal in Astrid Lindgrens religiös geprägter Jugend. Alles Erfahrungen, die ihren Weg zur weltberühmten Kinderbuchautorin mitbestimmten, sagte im Dlf Pernille Fischer Christensen, Regisseurin von "Astrid".

Pernille Fischer Christensen im Corsogespräch mit Sigrid Fischer | 05.12.2018
    Die junge Astrid Lindgren hält ihren Sohn im Arm und blickt aus einem Fenster.
    Große Sorge ums Kind: Schauspielerin Alba August als die junge Astrid Lindgren im Film "Astrid" (DCM)
    Astrid Lindgren ist nach Enid Blyton, H.C. Andersen und den Gebrüdern Grimm die meistübersetzte Kinderbuchautorin der Welt. Ihre Werke wurden in 100 Sprachen übersetzt und insgesamt rund 165 Millionen Mal verkauft. Der Kinofilm "Astrid" erzählt ein Kapitel aus ihrer eigenen Jugend in Schweden: Nach der Schule macht sie ein Volontariat bei der örtlichen Zeitung, der 30 Jahre ältere und noch verheiratete Chefredakteur verliebt sich in sie, sie wird schwanger. Die Konventionen der Zeit bringen sie dazu, den Sohn Lasse bei einer Pflegemutter unterzubringen. Unter dieser Trennung leidet sie sehr, später zieht sie ihn alleine groß. Die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen erzählt diese Geschichte in ihrem Film "Astrid", und sieht darin den Grundstein für die große Karriere der Schwedin.
    Geschichte hat sich sehr verändert
    Sigrid Fischer: Wie geht Schweden mit diesem Kapitel in Astrid Lindgrens Leben heute um? Redet man lieber nicht darüber, schämt man sich, weil man ihr das angetan hat, oder wie geht man damit um?
    Pernille Fischer Christensen: Vor zwei, drei Jahren ist eine sehr gute Biografie über sie erschienen - geschrieben von einem Dänen übrigens, ich bin ja auch Dänin - damals hat ihre Familie entschieden, Lindgrens Briefe und Tagebücher rauszugeben. Und so hat sich die Geschichte über Astrid Lindgren in der schwedischen Öffentlichkeit in den letzten Jahren sehr verändert. Vielleicht war es einfach eine Frage der Zeit. Wenn etwas schmerzhaft ist, braucht es manchmal eben, bis man sagt: Lasst uns noch mal drauf schauen und aus einem anderen Blickwinkel darüber reden.
    Die berühmte schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, (Archivfoto vom Oktober 1987)
    Die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren (1907-2002), aufgenommen im Jahr 1987 (picture-alliance / dpa / Schmitt)
    Fischer: Gibt es überhaupt noch irgendetwas Unbekanntes im Leben von Astrid Lindgren? Das ist ja kaum vorstellbar, weil sie eine so bekannte Person ist. Die Geschichte, die Sie im Film erzählen, ist ja auch nicht neu, aber haben Sie noch Details darin entdecken können, die Sie nicht kannten vorher?
    Fischer Christensen: Also, inspiriert dazu hat mich ein Foto in einer dänischen Zeitung vor fünf oder sechs Jahren. Auf dem Foto ist sie 20 und sie hat ein kleines Kind an der Hand, darunter steht: "Astrid und der kleine Lasse am Boulevard of Hope." Und dieser Boulevard ist in Kopenhagen. Da habe ich mich gefragt: Warum war sie mit ihrem Sohn in Kopenhagen? Und in dem Artikel dazu fand ich nur einen sehr kurzen Hinweis darauf. Also habe ich den Fotoband über sie, der in dem Artikel besprochen wurde, gekauft. Darin gab es so viele Fotos von ihr als junge Frau, auf denen sie sehr ernst, nachdenklich und introvertiert aussieht. Das hat mich sehr neugierig gemacht, denn wenn man sich an die ältere Dame erinnert, die immer sehr klug, sehr geistesgegenwärtig und sehr humorvoll war und immer gut gelaunt. Da habe ich mich gefragt: Wer ist sie? Was ist mit ihr passiert? Hat sie diese Geschichte mitgenommen?
    Sie wollte Lasses Mutter sein
    Fischer: Genau das frage ich mich, wenn ich Ihren Film "Astrid" sehe, inwiefern hat dieses Kapitel ihr weiteres Leben, das sozusagen an diesen Film anschließt, geprägt und geformt?
    Fischer Christensen: Sie hat selbst gesagt, dass die Tatsache, dass sie die ersten drei bis vier Lebensjahre nicht mit ihrem Sohn Lasse verbracht hat, dass sie ihn fast aufgeben musste - was sie aber nicht getan hat -, dass das sehr schmerzhaft für sie war. Und dass sie ihn nicht vergessen konnte. Sie wollte ihn, sie wollte seine Mutter sein. Sie hat auch gesagt, wie sie dieser Umstand als Autorin geprägt hat: "Ich wäre ganz bestimmt trotzdem Schriftstellerin geworden", sagte sie, "aber keine weltberühmte". Deshalb glaube ich, sie hat selbst angenommen, dass dieses Erlebnis mitentscheidend dafür war, dass sie soviel Empathie und diesen Hang zu Kindern hatte.
    Fischer: Das heißt, sie hätte vermutlich anders geschrieben ohne diese Erfahrung?
    Fischer Christensen: Ja, wenn Sie sich mal ihre Bücher angucken, da gibt es so viele einsame Kinder. Kinder ohne Eltern, insbesondere die Jungen. Mio zum Beispiel hat keine Eltern, aber er kommt drüber weg, er kämpft. Dann die Brüder Löwenherz, sie sind getrennt und der Jüngere von beiden möchte unbedingt bei seinem Bruder sein. Pippi Langstrumpf hat keine Mutter, ihr Vater lebt irgendwo weit weg auf einer Insel, als Pirat und so weiter. Also man findet viele, viele Kinder ohne Erwachsene in ihren Büchern.
    "Beim Namen Astrid Lindgren erstarren alle vor Ehrfurcht"
    Fischer: In Schweden ist Astrid Lindgren natürlich eine große Heldin. Hat sie diese Position in den anderen skandinavischen Ländern eigentlich auch?
    Fischer Christensen: In Schweden ist das schon super speziell. Da war sie ein Guru, eine moralische Instanz wie die Großmutter. Der Premierminister hat bei ihr Rat gesucht, er hat ihr zum Geburtstag ein Tierschutzgesetz geschenkt, sie ist auf Banknoten abgebildet. Wenn man in Schweden den Namen Astrid Lindgren erwähnt, erstarren alle vor Ehrfurcht. Weil sie auch über die schwedische Kultur geschrieben hat, man nennt sie dort das kulturelle Herz Schwedens. Aber ich bin in Dänemark aufgewachsen - okay, im Sommer waren wir auch auf Småland in Schweden - aber für uns hat sie nicht dieses Unantastbare.
    Pernille Christensen stützt den Kopf auf ihre Hände und blickt in die Kamera.
    Die Regisseurin Pernille Christensen (DCM)
    Fischer: Heute geht die Sorge um, dass Kinder keine Bücher mehr lesen und nur noch vor Computern sitzen. Haben Sie die Sorge auch? Und was ist zu tun, damit Astrid Lindgrens Bücher immer weiter gelesen werden?
    Fischer Christensen: Ich finde, die Eltern müssen das forcieren. Und bei ihren Kindern das Interesse an Literatur wecken, ihnen vorlesen und das Bücherlesen beibringen. Das ist die Verantwortung der Eltern, nicht der Schule. Setzt Eure Kinder nicht einfach vors iPad, wenn sie aus der Schule kommen, sondern nehmt Euch als Eltern Zeit. Denn es dauert nun mal, Kindern Kunst nahezubringen. Ihnen ein Kunstverständnis zu vermitteln und die Fähigkeit, zwischen Qualität und Schrott zu unterscheiden.
    "Pippi ist keine Cinderella"
    Fischer: Und wie ist Ihre eigene Erfahrung mit Lindgren-Büchern? Sie haben als Kind so ziemlich alles von ihr gelesen, oder?
    Fischer Christensen: Ja, Astrid Lindgrens Geschichten hatten eine ganz starke Wirkung auf mich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, ein Mädchen gewesen zu sein ohne Pippi Langstrumpf. Ich meine, wen gäbe es denn sonst als Vorbild? Das ist ja das Verrückte, mir fällt niemand sonst ein, die so modern, so stark und integer wie Pippi wäre. Sie ist so gar keine Cinderella, die darauf wartet, dass jemand ihren Schuh aufhebt.
    Fischer: Sie ist auch ein gutes Vorbild für Mädchen heute.
    Fischer Christensen: Yes, it’s crazy!
    Fischer: Gerade auch in der #MeToo-Debatte ist sie ein Vorbild.
    Fischer Christensen: Ja, genau! Aber sie ist 1945 geboren. She is free, because she is free.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.