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Filmemacher Theo van Gogh
Die Grenze der Toleranz

Der niederländische Filmemacher Theo van Gogh griff viele Menschen in seinem Land mit scharfen Worten an und schreckte dabei auch nicht vor Beleidigungen zurück. Doch trotz seiner provozierenden Aussagen fühlte er sich nicht bedroht. Ein Irrtum, wie sich zeigte.

Von Matthias Bertsch | 02.11.2014
    Regisseur Theo van Gogh bei Dreharbeiten.
    Regisseur Theo van Gogh bei Dreharbeiten. (Picture Alliance / dpa / EPA / Marcel Hemelrijk )
    "Heute wurde ein Amsterdamer ermordet. Abscheu und Fassungslosigkeit erfüllen uns. Darum haben wir uns hier auf dem Damm versammelt, dem Symbol für unsere Freiheit. Theo van Gogh machte vom Recht auf freie Meinungsäußerung als Schreiber und Cineast Gebrauch. Er hat sich mit vielen Menschen angelegt, auch mit mir - und das darf man in diesem Land."
    Der Oberbürgermeister von Amsterdam, Job Cohen, drückte aus, was am 2. November 2004 viele Niederländer empfanden: Entsetzen. Der Filmemacher Theo van Gogh war am Morgen von einem radikalen Muslim auf offener Straße regelrecht hingerichtet worden. An seinem Körper haftete ein offener Brief: eine Morddrohung an die aus Somalia stammende Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali. Sie hatte mit van Gogh den Kurzfilm "Submission" gedreht, der die Unterdrückung der Frauen im Islam anprangerte. In ihm berichten Musliminnen über Misshandlungen im Namen der Religion, während auf Teile ihres nackten Körpers Verse des Korans projiziert werden. Die Provokation war ein Markenzeichen van Goghs. Der bekennende Homosexuelle nannte die in den Niederlanden lebenden Marokkaner "Ziegenficker" und machte auch sonst aus seiner Ablehnung des Islams keinen Hehl:
    "Ich habe das Gefühl, dass der Islam eine fünfte Kolonne ist, die unsere Werte hasst. Das heißt nicht, dass sie gleich zur Waffe greifen, aber ich spüre eine tiefe Feindseligkeit."
    - "Von wem sprichst du?"
    "Die Imame, die über Homosexuelle herziehen, und hier im Viertel die verschleierten Frauen."
    - "Und da weißt du sicher, dass sie den Westen alle hassen?"
    "Ich kann das als einfacher Ungläubiger nur so sehen. Hirsi Ali sagte im Fernsehen, dass sie den Islam rückständig findet, und muss untertauchen."
    Rechtspopulist Pim Fortuyn war zwei Jahre zuvor ermordet worden
    Van Gogh war nicht der erste Niederländer, der dem Islam Rückständigkeit vorwarf. Der Soziologe und Rechtspopulist Pim Fortuyn, der zwei Jahre zuvor ermordet worden war, war mit seinen Angriffen auf den Islam zu einem der bekanntesten und in Umfragen beliebtesten Politiker der Niederlande aufgestiegen. Fortuyn, ebenfalls homosexuell, wurde von den etablierten Parteien geschnitten, nicht zuletzt, weil seine Position von der falschen Toleranz gegenüber dem Islam das Selbstbild der Niederlande als offene Multikulti-Gesellschaft erschütterte - ein Selbstbild, das in der Öffentlichkeit vorher kaum infrage gestellt worden war, so der Leiter des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster, Friso Wielenga:
    "So wurde Anfang des Jahrtausends deutlich, dass die Konsenskultur, die Kompromisskultur, die die Niederlande über Jahrzehnte geprägt hatten, in vielen Bereichen nicht mehr so funktionierte, und er, Fortuyn, sah sich als derjenige, der diese Kompromisskultur, diese Hinterzimmerpolitik der politischen Elite durchbrach und endlich mal sozusagen sagte, worum es eigentlich ging. Und dieser politische Stil war genau auch der Stil von Theo van Gogh."
    Und dennoch gab es einen großen Unterschied: Pim Fortuyn war von einem radikalen Tierschützer erschossen worden, Theo van Gogh von einem radikalen Islamisten. Der 26-jährige Mohammed Bouyeri hatte marokkanische Eltern, er selbst war in Amsterdam aufgewachsen, hatte die Hochschule besucht und sich dann dem fundamentalistischen Islam zugewandt. Bei seiner Verurteilung betonte er, dass er aus seinem Glauben heraus gehandelt habe und dies wieder tun würde.
    Für viele Niederländer war das eine Bestätigung dessen, was Fortuyn und van Gogh immer wieder gesagt hatten: Der Islam neige zur Gewalt und sei mit der Meinungsfreiheit und anderen Freiheitsrechten im Westen nicht vereinbar. Plötzlich kamen tief sitzende Ängste und Vorbehalte zwischen Mehrheits- und Minderheitengesellschaft zum Vorschein. In den Wochen nach dem Attentat verübten Unbekannte Anschläge auf Moscheen und islamische Schulen, wenig später brannten auch christliche Einrichtungen. Dann ebbte die Gewalt ab, doch die Verunsicherung ist geblieben - und sie ist nicht auf die niederländische Gesellschaft beschränkt. Friso Wielenga:
    "Wir sind ein bisschen unsicherer geworden, in mancher Hinsicht vielleicht auch ein bisschen ratloser, und dass man sich vielleicht manchmal ein bisschen zurücksehnt nach der alten vertrauten Normalität, nach dem alten vertrauten Selbstbild, aber diese Unsicherheit ist nicht typisch niederländisch, denn man sieht diese Unsicherheit im Hinblick auf Europa, auf Migrantenströme, auf Flüchtlingspolitik ist kein spezifisch niederländisches Problem, es ist ein europäisches Problem, und die Niederlande haben halt in den letzten zehn Jahren da schon ziemlich heftig darauf reagiert, aber die Probleme sind ähnlich."