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Filmfest München: "La Flor"
Vierzehn Stunden Argentinien

Seit langem ist das lateinamerikanische Programm beim Filmfest München herausragend. In diesem Jahr stellt es das Publikum vor eine Herausforderung: Mit einem Film, dessen Abspann allein 37 Minuten dauert - bei dem aber Skorpione helfen.

Von Katrin Hillgruber | 05.07.2019
Filmausschnitt aus dem Film "La Flor". Eine zombiehafte Gestalt mit roter Augenbinde wird von einem Mädchen gefüttert
Gewaltige Bilder, Spioninnen und Zombies: Der Film "La Flor" hatte bei den Filmfestspielen München Premiere (© FILMFEST MÜNCHEN 2019)
"Ab diesem Moment sind es noch vier Stunden, 13 Minuten und 40 Sekunden bis zum Finale von 'La Flor'. Buena Suerte".
"Viel Glück", wünscht Regisseur Mariano Llinás dem Kinopublikum aus dem Off. Ungefähr zwei Stunden später, als der gelbe Zwischentitel "Brüssel" eingeblendet wird, ertönt aus den Lautsprechern deutliches Schnarchen. Dann klingelt ein Wecker, und der Agentenführer Casterman ist wieder auf dem Posten, um seine vier weltweit operierenden Top-Spioninnen mit einem altmodischen Bakelittelefon zu dirigieren – wir schreiben die Achtziger Jahre.
Ob in der argentinischen Pampa, in Ost-Berlin oder Aug' in Aug' mit der Erzfeindin Margaret Thatcher während des Falkland-Krieges: Das Darstellerinnen-Quartett - Laura Paredes, Pilar Gamboa, Elisa Carricajo und Valeria Correa - brilliert in jeder Einstellung der kinematographischen Monsterblume namens "La Flor". Nicht nur musikalisch erweist diese Hitchcock-Filmen wie "Vertigo" oder "Notorious - Berüchtigt" Reverenz.
Zehn Jahre Drehzeit
Ab 2009 drehte Mariano Llinás zehn Jahre lang mit seinem unabhängigen Filmkollektiv Pampero Cine das Opus magnum "La Flor". Nach München ist unter anderem die Produzentin Laura Citarella angereist, selbst eine renommierte Regisseurin. Sie instruiert das Publikum:
"Sie können nicht aus diesem Kino gehen und glauben, Sie hätten "La Flor" gesehen, denn "La Flor" hat zwei weitere Teile. Um den ganzen Film zu sehen, müssen Sie alle drei Tage kommen. Wir werden das überprüfen… Sobald Sie von Skorpionen hören, bleiben Sie bitte noch sitzen, denn dann folgt bald die Pause."
Die Skorpione tauchen in der zweiten Episode auf. Darin mischt sich die herzzerreißende Liebesgeschichte eines Gesangsduos mit der eines Mafiaclans. Dieser verfolgt die Assistentin des Duos, die einen Skorpion versteckt hält. "La Flor" schießt nicht wirr ins Kraut, sondern folgt botanischen Ordnungsprinzipien. Der Film ist wie eine Blume aufgebaut, wie Regisseur Llinás anhand einer Skizze erklärt: Die ersten vier Episoden, die herkömmliche Sehgewohnheiten enttäuschen, da sie ohne Abschluss bleiben, symbolisieren vier Blütenblätter. Die fünfte Episode im Stil eines altfranzösischen Films formt den Fruchtknoten. Und die sechste, in der sich die Schauspielerinnen unter anderem in Bäume verwande
Filmfest München Deutsches Kino mit viel Potenzial
Filmfest München Konkurrenz aus Bayern für die Berlinaleln, bildet den Stiel der Blume. Die Produzentin Laura Citarella:
"Wenn Sie den Film anschauen, dann werden Sie erkennen, inwiefern diese verschiedenen Blütenblätter miteinander zusammenhängen und was sie mit den Episoden zu tun haben, die die Geschichte abschließen oder eben nicht abschließen. Die erste Idee, die wir zu "La Flor" hatten, war diese Zeichnung."
"Eine Form von Guerilla-Filmemachen"
Seit 2007 kuratiert Florian Borchmeyer das stets herausragende lateinamerikanische Programm beim Filmfest München. Die Mitglieder von Pampero Cine zählen zu seinen regelmäßigen Gästen. Mit "La Flor" hat sich auch für Borchmeyer das Kollektiv aus Buenos Aires künstlerisch übertroffen:
"Das ist ja ungefähr der längste Abspann der Kinogeschichte, ich glaube 37 Minuten. Das ist also wirklich eine Form von Guerilla-Filmemachen, die in eine ganz neue Dimension gerät, weil es einfach so komplett jenseits der Marktmechanismen funktioniert. Wer kann schon einen Film von 14,5 Stunden Länge wie "La Flor" sehen? Aber das ist eben machbar, wenn man diese Art von Freiheit sich schafft, indem man alles selber macht. Dieses intellektuelle Fieber, diese Rage, die in diesem Film steckt: Das ist schon was, was sehr viel mit der Tradition der Literatur, besonders auch am Rio de la Plata, zu tun hat."