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Filmkritik
Bernardo Bertoluccis Film "Ich und du"

Nach 30 Jahren dreht Bernardo Bertolucci wieder auf italienisch und zeigt mit seinem neuen Film eine Art Kammerspiel über das Erwachsenwerden. Ein Junge und seine Halbschwester brennen durch, machen auf cool, sind aber natürlich unsicher. Das Ergebnis ist schlicht und schön.

Von Josef Schnelle | 16.11.2013
    Altmeister des Kinos haben es schwer. Ihre Meisterwerke werden zur Last, die sie mit übertriebenen Erwartungen an jeden neuen Film zu erdrücken droht. Damit hat auch der 73-jährige Bernardo Bertolucci in seinem neuen Film zu kämpfen. Kann er noch kleine Geschichten erzählen, der Magier des zweiteiligen Geschichtspanoramas "1900" und der Schöpfer der opulenten Kinovision "Der letzte Kaiser" und vieler anderer prägender Filme des letzten Kinojahrhunderts?
    Nach einem schweren Unfall ist er auf einen Rollstuhl angewiesen, mit dem man ihn bei diversen Ehrenpreisen auf die Bühne fahren musste. Inzwischen ist er nach eigener Aussage schmerzfrei, doch seine Perspektive hat sich verändert. Er muss sitzend Regie führen. Das macht die Räume eng. Schon 2003 in seiner 68er-Paraphrase "Die Träumer" erzählte er eine weitgehend hermetische Story. Bei seinem neuen Werk "Ich und Du" nach einem Roman von Niccolò Ammaniti, der der Schriftstellergruppe "Canibali" - "Die Kannibalen" - angehört, bleibt er gleich ganz in einem geschlossenen Kellerraum. Dorthin verzieht sich der 14-Jährige, weil ihn seine überbehütende Mutter zum Skiausflug seiner Klasse an der falschen Stelle abliefert.
    "Lorenzo, Lorenzo, hör damit auf." - "Gut. O.K. Dann werd ich eben nicht mitfahren. Bist Du jetzt zufrieden." - "Alle in der Klasse haben gesagt, dass sie allein dahinkommen wollen. Wahrscheinlich bin ich der Einzige, der von seiner Mami abgeliefert wird."
    So konstruiert der Ausgangskonflikt ist, in dem auch inzestuöse Wünsche des Heranwachsenden eine Rolle spielen, so konstruiert bleibt der ganze Film. Im Keller voller Erinnerungsstücke der Eltern mag sich Lorenzo wie in einem Sammelsurium der erstarrten Erinnerungen zunächst scheinbar wohlfühlen. Doch Bertolucci stürzt seinen jungen Protagonisten gleich in einen Konflikt, den er nicht unbeschadet überstehen kann. Sehr bald klopft Olivia an, die Tochter des Vaters aus erster Ehe, die in den 20ern ist und schon am Ende ihrer ganzen Kraft. Um Lorenzos Eremitendasein ist es nun geschehen. Olivia ist schwer heroinabhängig und weiß sich kaum zu helfen. Das Kellergewölbe ist scheinbar ihre einzige Zuflucht.
    "Warum erschreckst Du mich so? Was soll der Mist?" – "Komm lass mich jetzt rein. Weil ich nicht weiß, wo ich sonst pennen soll. Lass mich jetzt rein." - "Das ist mein Versteck und ich will keinen Ärger kriegen." – "Hör zu. Wenn Du mich nicht reinlässt, dann schwör ich Dir, fang ich an zu schreien, dass der ganze Block aufwacht." - "Schon gut." - "Kennst Du den Buddhismus?" - "Aber Du bist keine Buddhistin. Auf keinen Fall."
    Die Halbgeschwister finden mehr und mehr zueinander, scheinen gar die jeweilige Rettung füreinander zu bedeuten. Sie arbeiten ihre Traumata auf und sie spielen mit der inzestuösen Anziehung, die Bertolucci schon immer interessiert hat. So werden im Konzentrat ihrer unerwarteten Begegnung die Konfliktlinien ihrer Familie immer deutlicher sichtbar. Bertolucci und seinem Kameramann Fabio Cianchetti gelingen grandiose Bilder der Weltflucht und Einkehr und dann wieder verträumte Innenansichten der Seele der jungen Leute, die vielleicht gerade deshalb besonders gut gelingen, weil der Regisseur mit dem Blick eines alten Mannes auf die – durchweg großartig spielenden - jungen Schauspieler schaut.
    Lorenzo hat ein Ameisenherbarium dabei. So ähnlich mag man auch im Alter die zappelnden Versuche der Jungen, dem Schicksal zu entkommen, betrachten. Ein wenig herzlos ist das passagenweise. Erst wenn Bertolucci die beiden Hauptfiguren im Tanz vereint, ihnen die Luft und den Raum der Emotionen erlaubt, ist dieser Film ganz bei sich als wehmütiger Blick zurück auf Jugend, Schönheit und Zukunft. Hoffentlich kein Abschiedsgeschenk des großen Kinomeisters, vielmehr der Beginn eines neuen Kapitels in seinem Filmschaffen.
    1969 bemerkte das Management von David Bowie, dass dessen Weltraumdramasong "Space Oddity" in Italien nicht lief. Sie ließen ihn eine spezielle Textversion für Italien singen - eine traurige Liebesgeschichte "Ragazzo Solo, Ragazza Sola" - einsamer Junge, einsames Mädchen. Wenn Lorenzo und seine Schwester dazu tanzen, ist dieser tiefgründige Film schlicht und schön. Hoffnung scheint auf.