Freitag, 19. April 2024

Archiv

Filmkritik: "Dunkel, fast Nacht"
Alptraumhafter Thriller

Der polnische Regisseur Borys Lankosz verwebt in seinem neuen Film "Dunkel, fast Nacht" Traum und Wirklichkeit. Die Literaturverfilmung spricht aktuelle Themen an: Fremdenhass, rechte Demagogie, die Suche nach Sündenböcken und die Rolle der Medien.

Von Rüdiger Suchsland | 12.10.2019
Es ist dunkel. Im Hintergrund ist ein brennendes Haus, im Vordergrund läuft ein nackter Mensch davon.
Kino als Bewusstseinsstrom: Borys Lankoszs Film "Dunkel, fast Nacht" (Camino Filmverleih, Foto: Adam Golec / Aurum Film)
Ein Zug fährt durch eine karge, kalte, schneebedeckte Gebirgslandschaft. Es geht in die Provinz und ins Untergründige, auch in die Vergangenheit der Personen und des Landes. Die Hauptfigur ist Alicja, eine Frau um die 40 und von Beruf Journalistin. Schon im Zug liest man eine Zeitungsschlagzeile, auf der in reißerischen Lettern gefragt wird: "Wer entführt die Kinder?" Und bald ist klar: Alicja reist in die polnische Provinz, nach Unterschlesien, um über eine Reihe von Kindern zu berichten, deren Verschwinden gerade die Region erschüttert.
Auf der langen Zug-Fahrt fällt Alicja kurz in den Schlaf. Sie träumt schlecht, das ist zu sehen. Und der Film visualisiert diese Träume, ebenso wie Erinnerungen von ihr wie von anderen Figuren des Films. Sind die Kinderstimmen, die sie hört echt, oder geträumt?
"Ich hab meine Barbie im Ofen verbrannt..."
Kino als Bewusstseinsstrom
Beides. Träume und Erinnerungen, die oft alptraumhafte Gestalt haben, sind sehr bewusst in diesem Film nicht leicht auseinanderzuhalten. Von Anfang an mischt sich auch eine Ebene des Mysteriösen und der Kindermärchen und ihrer Figuren unter die Handlung des Films - wie die Legenden der Erwachsenen:
"Die Katzenfresser... Es war einmal ein schwarzer Wald und in diesem schwarzen Wald stand ein schwarzes schwarzes Haus und in diesem schwarzen Haus war ein schwarzes schwarzes Zimmer und in diesem schwarzen Zimmer stand ein schwarzer schwarzer Tisch und auf diesem schwarzen Tisch stand ein schwarzer schwarzer Sarg und in diesem schwarzen Sarg, lag 'ne weiße weiße Leiche..."
Der polnische Regisseur Borys Lankosz strebt offensichtlich nach einem Kino als Bewusstseinsstrom, als eines Flusses, der das Publikum entfesselt, mitreißt, und in dem Sein und Schein sich bewusst vermengen. Dazu passt auch die Hauptfigur Alicja. Denn das Städtchen, in das sie kommt ist ihre Heimatstadt, das Haus in dem sie wohnt, ihr Elternhaus. Und so kommt auch ganz persönlich Verdrängtes und Unterbewusstes wieder zum Vorschein.
Thriller mit rätselhafter Atmosphäre
Ihr Name deutet das genaugenommen schon an. Denn Alicia ist auch eine erwachsene, polnische Schwester von "Alice in Wonderland". Ein weißes Kaninchen gibt es hier auch, und das "rabbithole" in das diese Journalistin stürzt, ist das persönlich Verdrängte wie das der Gesellschaft. Denn ein Erzählstrang führt auch in das Schlesien der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Zeit der Pogrome und der Partisanen. Solche Verweise auf die wechselhafte Geschichte Polens, auf die Verbrechen der SS, und die Rolle der Sowjets gibt es zuhauf.
"Dunkel, fast Nacht" ist ein Thriller. Aber ein Thriller, der weniger durch direkten Suspense funktioniert als durch seine Atmosphären: durch eine Stimmung, die schön und rätselhaft ist.
Zugleich ist dies ein Film, der untergründig viel Zeitgeist transportiert, und in seinem sicheren Korsett des Genrekinos en passent wichtige aktuelle Themen anspricht: Fremdenhass, Rechte Demagogie, die Suche nach Sündenböcken und die Rolle der Medien.
Im Stil von "Twin Peaks" und "M"
"Meiner Meinung nach liegt das Problem in Polen darin, dass Menschen Kinder in die Welt setzen, die es überhaupt nicht sollten. Die Intelligentsia hat eins, höchstens zwei. Der Abschaum: Ein Dutzend! Haben Sie selbst Kinder?" - "Nein" - Aha".
Die besondere Stärke dieses Films ist sein Stil. Die Bilder sind oft Dunkel, und in seinen hervorstechenden Hell-Dunkel-Kontrasten und der Handlung steht der klassische Film-Noir Pate. In seinen besten Momenten erinnert "Dunkel, fast Nacht" an große Vorbilder wie die Serien "Twin Peaks" und "Sharp Objects", aber auch an Filmklassiker wie Fritz Langs "M".
Ein sehr guter, facettenreicher Film, der Aufmerksamkeit erfordert, die aber belohnt wird.