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Filmkritik "Jack"
Ein grandioser kleiner Hauptdarsteller Ivo Pietzcker

Auf die Mutter ist kein Verlass. Sie kümmert sich nur sporadisch um ihre Familie, manchmal bringt sie abends Typen mit. Der zehnjährige Jack hockt sich dann neben das kopulierende Paar und sagt: Ich hab' Hunger. Der Film "Jack" von Regisseur Edward Berger besteht aus purer Handlung. Erklärt wird nichts, beschönigt auch nichts.

Von Josef Schnelle | 04.10.2014
    Wenn der zehnjährige Jack morgens aufwacht, steht er gleich unter Strom. Alles muss schnell gehen. Alles muss funktionieren. Auch seinen kleinen Bruder Manuel muss er managen. Auf die Mutter ist kein Verlass. Sie arbeitet in wechselnden Jobs und kümmert sich nur sehr sporadisch um ihre Familie. Manchmal bringt sie abends Typen mit. Jack hockt sich dann neben das kopulierende Paar und sagt: Ich hab' Hunger. Dann kriegt er eine labbrige Scheibe Toast gereicht und vielleicht noch ein Glas Saft. Seine 26-jährige Mutter ist ständig auf Achse. Sie will ausgehen, was erleben. Und ist dann oft tagelang verschwunden. Wenn sie wieder auftaucht, tut sie so, als sei nichts geschehen.
    - "Ich habe jemand kennengelernt. Es ist was Ernstes. Das spüre ich einfach. Der ist so: Weißt, der hält einem die Türen auf. Danke schön, Schatz."
    - "Aber Dein Handy war nicht an."
    - "Ja, aber nur kurz. Ich habe euch so vermisst, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen."
    Auch im Wohnheim, in dem er anfangs einmal landet, hat Jack weder Freunde noch Orientierung. Und die Ferienanrufe seiner dysfunktionalen Mutter halten sich in Grenzen. Immer nur Vertröstungen und schlechte Nachrichten. Dieser kleine große Held ist ganz auf sich allein gestellt. Irgendwann ist am vereinbarten Ort, im Stiefel vor der Wohnungstür, auch kein Schlüssel mehr zu finden. Jack muss improvisieren, vergisst dabei aber nie seinen kleinen Bruder. Sie übernachten auf Parkbänken und in leer stehenden Autos in der Tiefgarage. Sie müssen sich in Acht nehmen, damit nicht alles zusammenbricht. Und so ganz nebenbei ist Jack auch der Lehrmeister seines kleinen Bruders. Zum Beispiel, wenn es ums Schnürsenkelbinden geht.
    "Kuck Mal. Du machst hier so einen Knoten. Machst so ein Ohr. Bindest es rum und ziehst es durch. Das musst du üben, OK?"
    Tempo überträgt sich direkt in den Zuschauerraum
    Irgendwie wirkt Jack wie eine Figur aus einem altertümlichen Erich-Kästner-Film wie "Pünktchen und Anton". Doch die Ästhetik dieses Films ist bunt und schrill. Der Regisseur benutzt Plansequenzen ohne Schnitte, um seine Hauptfigur nicht aus den Augen zu verlieren. Das Tempo, mit dem der rastlose kleine Junge sich durch die Stadt bewegt, überträgt sich dadurch ganz unmittelbar in den Zuschauerraum. Auch lässt sich der Film keine Zeit für Nebenhandlungen oder sentimentale Ruhemomente, in denen in anderen Filmen erst einmal über das Leben Jacks und seine Gefühlsverfassung spekuliert werden würde. Zu drehen habe er erst begonnen – sagt Regisseur Edward Berger –, als er sicher war, dass keinerlei Fett mehr an den Knochen der rohen Geschichte hing. Und so ist "Jack" ein Film, der fast aus purer Handlung besteht. Erklärt wird nichts, beschönigt auch nichts. Lange glaubt Jack unerschütterlich an die Liebe seiner Mutter, auch, wenn er immer wieder enttäuscht wird.
    - "Wo ist Mama?"
    - "Was?"
    - "Wo ist Mama?"
    - "Keine Ahnung, die ist doch heute gar nicht dran."
    - "Aber sie hat doch gesagt, sie muss arbeiten."
    - "Kann ich Mal dein Handy haben?"
    - "Ne, aber im Büro ist ein Telefon."
    Die Poesie dieses Films über die Großstadteinsamkeit, bei der sich außer Jack keiner mehr für den anderen verantwortlich fühlt, ist auch ein Porträt der Metropole Berlin. Supermärkte, Nachtklubs, Bars und Parks sind die Schauplätze dieses grandiosen Films über Liebe, Einsamkeit und Verantwortung. Manchmal wendet sich Jack in seiner Verzweiflung an die Verflossenen seiner Mutter, die ihm aber auch meist nicht weiterhelfen können.
    - "Ich bin nicht euer Vater, Jack. Ich kann mich nicht um euch kümmern. Ich habe keine Zeit."
    - "Ich geh jetzt mit Manu nach Hause."
    - "Aber da ist keiner, Jack."
    - "Doch."
    - "Nein, da ist keiner."
    - "Doch."
    - "Jetzt pass mal auf: Eure Mutter, die hat euch hängen lassen. Die ist doch schon seit Tagen weg. Kapier das doch endlich mal."
    - "Du lügst."
    Wer einen solchen "Jack" kennt, der ist noch lange nicht verloren in dieser Welt. Der grandiose kleine Hauptdarsteller Ivo Pietzcker trägt den ganzen Film.
    Erst, wenn Jack aufhören wird zu rennen, auch davon zu laufen vor bitteren Wahrheiten, dann ist auch für ihn ein anderes Leben möglich.