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Filmkritik "Leviathan"
Russlands Innerstes

In "Leviathan" vermischt der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev die biblische Geschichte von Hiob mit Kleists "Michael Kohlhaas". In der Hauptfigur kommen der gottesfürchtige, glaubenstreue Leidende und der Gerechtigkeitskämpfer gegen das Establishment zusammen. So erzählt der Filmemacher eine packende Geschichte über den Charakter seines Heimatlandes.

Von Rüdiger Suchsland | 08.03.2015
    Alexej Serebryakov in einer Szene des Films "Leviathan" von Andrej Swjaginzew.
    Alexej Serebryakov in einer Szene des Films "Leviathan" von Andrej Zvyagintsev. (picture alliance / dpa / RIA Novosti Maslov)
    "Akhnaten" heißt die Oper von Phil Glass, die zu Anfang und zu Ende dieses Films aus allen Kino-Boxen dröhnt, zu Deutsch "Echnaton", benannt nach jenem altägyptischen Pharao, der gegen den etablierten ägyptischen Götterhimmel rebellierte, den Monotheismus einführen wollte - und damit scheiterte. Solche Referenzen, solche Bezüge zum Großen der Menschheitskultur und zugleich zu Geschichten vom Kampf der Menschen gegen die göttliche Ordnung, vom Widerstand gegen die Macht gibt es viele in "Leviathan", dem großartigen vierten Film des Russen Andrey Zvyagintsev, der hier selbst so eine zeitlose und doch ganz gegenwärtige Geschichte erzählt.
    Es beginnt mit statischen Bildern einer menschenleeren felsigen Küstenlandschaft. Allerdings bemerkt man Straßen und Stromtrassen zwischen der mächtigen Natur. Hier liegen auch langsam vor sich hinrottende Schiffswracks und das riesige Gerippe eines Walfischs herum.
    Hier spielt der Film, in einer kleinen gottverlassenen Fischermetropole irgendwo am nordwestlichen russischen Polarmeer.
    In den ersten Minuten sieht man einen Mann, der im Morgengrauen einen anderen vom Provinzbahnhof abholt, es sind zwei Freunde, sie verstehen sich gut: Dimitri, der Besucher trägt einen Anzug, er kommt aus der Großstadt, und ist, man erfährt es schnell, Rechtsanwalt. Der Einheimische heißt Kolya, er ist Fischer und Mechaniker.
    Wir lernen seine Familie kennen, seine junge, hübsche und energische zweite Frau Lilya und den halb erwachsenen Sohn, dessen Mutter verstorben ist. Und das Haus, in dem er lebt: Alt, schön, über dem Dorf gelegen mit großen Fenstern und prächtigem Blick, innen vollgestopft mit alten Büchern.
    Man erfährt, dass es um dieses Haus einen Prozess gibt, der Bürgermeister hat es darauf abgesehen, der Anwalt aus der Metropole soll helfen. Am Abend kommt der Bürgermeister unangemeldet an die Tür: Besoffen, trunken auch von seiner Macht, droht er Kolya unverhohlen - ein Abbild von Korruption, Macht, Gewalt.
    "Sie haben nicht das Recht, sich hier aufzuhalten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig." - "Du Abschaum hast noch nie irgendwelche Rechte gehabt. Weder hast du welche, noch wirst Du je welche haben."
    Um Recht und höhere Gerechtigkeit geht es hier also, aber eben auch um deren Schattenseiten, um Ungerechtigkeit und Willkür.
    Auf den ersten Blick bereits mischt "Leviathan" die biblische Geschichte von Hiob mit Kleists "Michael Kohlhaas". In der Figur des Kolya kommen sie zusammen: Der gottesfürchtige, glaubenstreue Leidende und der Gerechtigkeitskämpfer gegen das Establishment.
    Das Offensichtlichste nicht zu wichtig nehmen
    Denn dieser neuzeitliche Kohlhaas muss nicht allein mit seinem Glauben ringen, sondern vor allem mit seinem Staat, der dem alttestamentarischen Gott gleich machtvoll, autoritär, oft willkürlich und gelegentlich rachedurstig agiert.
    Eine der eindrucksvollsten Szenen ist ein Sonntagsausflug von Kolya mit Familie und Freunden. Man trinkt viel Wodka und zielt auf Schießscheiben, auf denen Fotos die Gesichter der ehemaligen Führer Russlands zeigen: Lenin, Stalin, Breschnew, Gorbatschow.
    "Wir können noch nicht aufhören, ich hab noch mehr Zielscheiben." - Hast Du keinen von heute?" - "Nein, wir haben noch zu wenig Verdienste."
    Man sollte "Leviathan", auch wenn diese Sichtweise noch so verführerisch sein mag, dennoch nicht auf das Offensichtliche reduzieren, nicht auf die Kritik am politischen System Russlands, das durch Wladimir Putin eher repräsentiert wird als dass es von ihm geschaffen wurde.
    "Leviathan" zwingt schon durch seine Machart zu einem grundsätzlicheren Verständnis: Man wird hier die Ideen der großen russischen Schriftsteller ebenso finden wie die bedeutender sowjetischer Filmemacher. Die Rebellion gegen Gott und Staat ebenso wie das Bild einer kosmischen Gleichgültigkeit.
    "Alle Macht kommt von Gott. Solange es dem Herrn beliebt, musst Du Dir keine Sorgen machen." - "Aber beliebt es ihm denn?"
    "Leviathan" - dieser Titel hat, wie der ganze Film, ein Doppelgesicht. Er meint den Walfisch der biblischen Hiobgeschichte - und man sieht im Film nicht nur das Walgerippe am Strand, sondern auch einmal an entscheidender Stelle einen leibhaftigen Wal, der kurz aus dem Meer auftaucht.
    Aber der Leviathan, das ist auch der Titel für den Rohentwurf des neuzeitlichen Staates, der vom Briten Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts stammt. Dort wird der starke, absolutistische Staat beschrieben, der nichts garantiert außer dem nackten Leben. Aber auch hier ein doppelbödiger Sinn: Denn Hobbes war auch der erste Staatstheoretiker, der den Menschen ein Widerstandsrecht einräumte.
    Für Kolya geht - wie bei Hiob - alles schief, was nur schiefgehen kann. Er verliert sein Haus, seine Frau, seinen Sohn und seine Freunde, seine Arbeit, aber er verliert auch seine Ehre und seine bürgerliche Existenz.
    "Wo ist er, der Gott, der Barmherzige?" - "Gottes Wege sind unergründlich."