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Filmkritik "Meine Schwestern"
Geschwisterliebe im Angesicht des Todes

Linda hat einen Herzfehler und steht vor einer entscheidenden Operation. Mit ihren beiden Schwestern will sie ihre womöglich letzten Tage verleben. Lars Kraume gelingt mit seinem Kinofilm ein Melodram über das Leben, die Liebe und den Tod.

Von Josef Schnelle | 01.02.2014
    - "Ich wurde mit einem Herzfehler geboren. Die Ärzte gaben mir drei Monate. Daraus wurden 30 Jahre. Katharina ist meine große Schwester. Als ich fünf Jahre alt war, hat unsere Mutter zu ihr gesagt: Sie muss stark sein, weil ich sehr krank auf die Welt gekommen bin. Kleine Clara. Wir haben sie immer behütet, aus allem versucht rauszuhalten. "
    – "Wieso redest du mit Katharina über alles und mir erzählst du gar nichts.?"
    - "Weil du immer willst, dass alles schön ist."
    Schwesternliebe vor der letzten Prüfung. Linda hat ein Loch im Herzen und nun mit 30 Jahren muss sie sich noch einmal einer Operation stellen. Im Schatten ihrer Krankheit hat sich die Beziehung zu ihren Schwestern entwickelt. Die ältere Katharina war ihr Leben lang die Beschützende. Die kleine Schwester Clara hat schon immer die Gefahr, in der Linda schwebt, ignoriert.
    Über die Jahre hat sich das Verhältnis der drei Schwestern zu einem Theater der Befindlichkeiten eingespielt. Linda trotzt ihrer Behinderung durch einen wilden und gefährlichen Lebensstil. Katharina versucht, alles und alle im Griff zu behalten. Clara blendet die Gefahr, die über dem Leben ihrer Schwester liegt, vollkommen aus. So sind sie über die Zeit gekommen, als kleine Solidargemeinschaft, in der alle Glücksmomente geteilt worden sind und die dunklen Schatten der Sorge umeinander bis jetzt stets vertrieben wurden.
    Doch an einem unabhängigen, eigenständigen Leben hat die drei Schwestern das auch gehindert. Linda möchte ihre vielleicht letzten Tage mit den Menschen verbringen, die sie am meisten liebt: mit ihren Schwestern. Und stiftet sie zu einer gemeinsamen Auszeit an im Nordsee-Ferienhaus, in dem sie glücklich waren. Die Sehnsucht, vergangenes Glück wieder zurückholen zu wollen, bestimmt den Alltag der drei Schwestern. Sie ahnen aber auch, dass sie etwas festhalten wollen, was nicht festzuhalten ist. Linda philosophiert über ihre Situation und greift zurück auf den ersten Satz von Tolstois Jahrhundertroman Anna Karenina:
    "Alle glücklichen Familien ähneln einander. Alle unglücklichen aber sind auf ihre eigene Weise unglücklich. Einer der berühmtesten Sätze der Literaturgeschichte. Ich habe lange darüber nachgedacht. Das ist Unsinn. Genau so gut lässt sich das Gegenteil behaupten. Auch das Unglück der Menschen ähnelt sich. Und außerdem hat jede unglückliche Familie auch ihre unglücklichen Momente und umgekehrt."
    Die Sache ist vertrackt. Ist das Glück größer, wenn es lange dauert oder genügen manchmal auch wenige kurze Augenblicke. Linda hat keine Wahl. Sie muss sich mit ihrem vermutlich kurzen Leben abfinden. Alle anderen werden in ihren Sog gezogen.
    Die pure Lebenskraft der Frau ohne Hoffnung zieht alle mit. Regisseur Lars Kraume hat diese Geschichte inszeniert wie ein klassisches Melodrama der großen Zeit Hollywoods mit Douglas Sirk und Elia Kazan. Und er hat mit Nina Kunzendorf, Jördis Triebel und Lina Hagmeister drei wunderbare Darstellerinnen für seine Geschichte gefunden, die er kongenial in Szene setzt.
    Wie ist das mit dem Leben? Ist es wichtig, lange zu leben oder reicht einfach die Intensität? Lars Kraume stellt in seinem Film nicht nur diese Frage. Denken wir nach über den Tod, der uns jederzeit ereilen kann? Sind wir dieser Sorge gewachsen? Sollten wir darüber reden? Sind 100 Jahre mehr als ein einziger intensiv empfundener Tag? In Paris, dem nächsten Spontanziel ihrer Reise kommt es zu dem folgenden Dialog zwischen Linda und ihrem Lieblingsonkel Daniel.
    - "Ich sterb doch sowieso."
    – "Irgendwann sterben wir sowieso. Für gewöhnlich zögert man es ein bisschen raus. Damit es ein bisschen länger dauert."
    – "Bei mir dauert es aber nicht länger."
    – "Lass uns lieber wieder über das Wetter reden."
    Lars Kraume ist ein äußerst lebendiges Melodrama über das Leben, die Liebe und den Tod gelungen. Die Zwischentöne sind glaubhaft und wenn die drei Schwestern in doppelter Löffelchen-Stellung im Bett liegen wie auf dem Plakat des Films, dann ist das ein großes Bild für Liebe dieser drei Schwestern, das den ganzen Film zusammenfasst. "Bis gleich", haucht Linda ihren Schwestern zu als sie in den OP gefahren wird.
    Sie wird nicht wiederkommen, das hat der Film schon in der ersten Szene klar gemacht.