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Filmregisseur Jean Renoir
Patron des französischen Kinos

Jean Renoir erlebte als Sohn des impressionistischen Malers Pierre-Auguste Renoir eine glückliche Kindheit. Sie war die Grundlage seines späteren Filmschaffens. Sein Film "Die große Illusion" von 1939 gilt als Hauptwerk des poetischen Realismus. Den Begründern der Nouvelle Vague galt er als "Patron".

Von Katja Nicodemus | 15.09.2019
    Pierre Auguste und Jean Renoir auf einer Fotografie von Pierre Bonnard von 1916
    Filmregisseur Jean Renoir mit seinem Vater, dem impressionistischen Maler Pierre-Auguste Renoir (Musée d'Orsey, Dist. RMN-Grand Palais / Patrice Schmidt)
    Es gibt Regisseure, die ein Thema haben. Es gibt Regisseure, die viele Themen haben. Und es gibt Regisseure, bei denen es fast egal ist, wovon sie erzählen, weil sie immer von allem sprechen. Solch ein Regisseur ist Jean Renoir. 40 Filme hat er zwischen 1924 und 1968 gedreht. Einer seiner berühmtesten heißt "Die große Illusion", entstanden 1939, und gilt als ein Hauptwerk des poetischen Realismus.
    Jean Gabin und Pierre Fresnay als französische Offiziere, die in deutsche Gefangenschaft geraten, Erich von Stroheim als deutscher Adeliger und Lagerkommandant, der sie mit dem allergrößten Respekt behandelt. Mit einer Kamera, die jede Kleinigkeit auffängt und den Schauspielern ungeheure Präsenz verleiht, zeigt Renoir Figuren, die in einem unmenschlichen System ihre Würde und Menschlichkeit bewahren – oder es zumindest versuchen. Die Szene, in der der Offizier von Stroheim seine beiden Gefangenen, deren Flugzeug er abgeschossen hat, begrüßt, wirkt in ihrer Entspanntheit fast absurd.
    "Meine Offiziere!" - "Holler." - "Schild." - "Stoldt." - "Winterfeld." - "Es ist uns eine Ehre, französische Gäste zu haben. Meine Herren, darf ich Sie zu Tisch bitten."
    "Die große Illusion" zunächst in Frankreich und Deutschland verboten
    "Die große Illusion" kam heraus, als Europa gerade in den nächsten Weltkrieg schlitterte, von den Franzosen wurde der Film wegen Deutschfreundlichkeit verboten, von den Deutschen wegen seines Pazifismus. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg endlich in ganzer Länge gezeigt werden konnte, drehte Jean Renoir eine so vitale wie bewegende Einführung für die Kinozuschauer.
    "Manche Szenen können heute überraschen. Vor allem die, in denen es um die Beziehungen zwischen Franzosen und Deutschen geht. 1914 gab es noch keinen Hitler. Und keine Nazis, die die Welt fast vergessen ließen, dass auch die Deutschen Menschen sind. 1914 war der Geist der Menschen noch nicht von der Religion des Totalitarismus, vom Rassismus vergiftet."
    Jean Renoir kam am 15. September 1894 in Paris als Sohn des Malers Pierre-Auguste Renoir zur Welt. Er verbrachte eine glückliche Kindheit in Colettes, dem Anwesen der Renoirs im südfranzösischen Cagnes-sur-mer. Es war eine Kindheit, geprägt von den Kochkünsten einer temperamentvollen Mutter, von einem Malervater, der dem Sohn beiläufig vorführte, wie man die Natur poetisch verwandeln kann, von einem lebendigen, fröhlichen Haushalt, in dem sich die Modelle des Vaters, Dienstmädchen und Freunde der Familie auf unbeschwerte Weise die Klinke in die Hand gaben.
    Diese Kindheitserfahrung einer Welt der Gleichberechtigung, des Durcheinanders, der Freude und Schönheit, war die Grundlage des Filmschaffens von Jean Renoir.
    Sittenbild der europäischen Gesellschaft
    Colette, dieser idyllische Ort, wird 1959 Schauplatz von Renoirs Spätwerk "Frühstück im Grünen", inspiriert von dem gleichnamigen Bild von Edouard Manet. In allen Renoir-Filmen spielt die Natur eine tragende Rolle: Die neblige Landschaft der Sologne in "Die große Illusion", die Wälder und Felder außerhalb von Paris in einem weiteren Meisterwerk: Der Gesellschaftsmetapher, nein: Menschheitsmetapher "Die Spielregel".
    Auf einem Anwesen der französischen Oberschicht versammelt Renoir 1939 Aristokraten, Großbürger und Dienstboten, Liebende und Betrügende zu einer frivolen Tragikomödie – zu einem großen Sittenbild der moralischen Verkommenheit und Kälte. Es ist auch eine gnadenlose Diagnose der europäischen Gesellschaften vor dem Zweiten Weltkrieg. Dazu im Gegensatz stehen die Detailfülle der Bilder und der wunderbar musikalische Rhythmus der Inszenierung.
    Flucht in die USA
    Nach der deutschen Besetzung Frankreichs flieht Renoir in die Vereinigten Staaten, wo er weitere bedeutende Werke dreht, unter anderem auch einen anti-nazistischen Propagandafilm.
    Renoirs poetisch-lebendiger Strom des Schaffens und der Bilder erfasste auch seine Regieassistenten, die späteren Regisseure Luchino Visconti, Robert Aldrich und Jacques Becker sowie den späteren Fotografen Henri Cartier-Bresson.
    Als einer der wenigen Regisseure seiner Generation wurde Jean Renoir in den 50er-Jahren von den jungen Kritikern der Cahiers du Cinéma, den späteren Begründern der Nouvelle Vague, als Regieautor mit eigener Handschrift akzeptiert. Sie nannten ihn "patron".
    1979 starb Jean Renoir, der Patron des französischen Kinos und des Weltkinos, mit 84 Jahren in Beverley Hills. Begraben ist er in Frankreich.