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Filmschnitt- und Puppentheater

Die letzte Spielzeit der Kölner Theaterintendantin Karin Beier beginnt mit zwei apokalyptischen Stücken: Katie Mitchell hat Friederike Mayröckers "Reise durch die Nacht" inszeniert und Suse Wächter für "Der Abend aller Tage" ihre berühmten Puppen animiert.

Von Karin Fischer | 15.10.2012
    "Ich spüre wieder das Auffliegen der Vogelschwärme in meiner Brust, ich spüre das Feuerrad, Abtragung eines Gesichts, ist bestehe nur noch aus unübersichtlichen Teilen, rufe ich, alles ist unübersichtlich geworden, alles verrottet, zerrüttet, verkommen…"

    Eine Zugfahrt von Paris nach Wien, im Schlafwagen, die Protagonistin versucht sich zu erinnern, an ihren Vater, der jetzt tot ist, an ihre frühe Kindheit. Ihr Mann und Begleiter, Julian, bleibt die ganze Zeit stumm, sie selbst schreibt oder starrt aus dem Zugfenster, ins Leere. Julia Wieningers Gesicht bildet, wie schon im "Wunschkonzert" von Franz Xaver Kroetz, die ausdrucksstarke Pforte zu einer Seelenschau, in der um Klarheit und Erinnerung gerungen wird, die aber im Sumpf einer familiären Gewalterfahrung endet. Dabei lösen, gut psychoanalytisch gedacht, Begegnungen im Abteil oder Einzelmomente – ihr Mann küsst sie auf die Stirn – Erinnerungsfetzen aus, die den Erkenntnisprozess befördern. Doch ob er heilsam war, bleibt offen. "Nicht mehr und noch nicht. Heilsame Abschneidung" heißt der letzte, kryptische Satz. Ein Mayröcker-Satz, deren Erzählung "Reise durch die Nacht", heute vergriffen, ein assoziatives, hermetisches Gebilde ist. Dass Katie Mitchell überhaupt eine Geschichte daraus destillieren konnte, ist das erste Wunder dieses Abends. Das Zweite besteht in einem Bühnenbild, das die Brüche und Sprünge in der Wahrnehmung der Erzählerin gleichzeitig ermöglicht und kongenial sichtbar macht. Alex Eales hat den Waggon eines Zuges mit mehreren Abteilen breit auf die Bühne gestellt, die sich von mehreren Seiten öffnen und begehen lassen. Eine oder mehrere Kameras folgen den Figuren durch diesen fiktiven Zug und projizieren eine Geschichte, die vor allem aus Nahaufnahmen besteht, auf eine Leinwand über ihm. Dort zieht auch, wunderschön gemacht, das Hell-Dunkel der nächtlichen Zugfahrt vorbei, spärlich beleuchtete Vororte, gleißende Bahnhöfe, Straßen wie Leuchtgirlanden. Ein exquisiter Soundtrack liefert die perfekte Geräuschkulisse dieser Zugfahrt, in der sogar die Musik das Rattern der Gleise, das Dröhnen der Schienen nachahmt:

    Die Außenwände der Abteile können hochfahren, dann entstehen jene Räume, das Wohn- und Kinderzimmer von früher, in denen sich die Erzählerin in der Erinnerung bewegt. Die Mutter erscheint ihr kurz auf der Toilette; der Vater entzündet die Kerze eines Mobiles neben ihrem Bett. Oder repariert die Puppe – oder zerstört er sie?

    Technisch hat Katie Mitchell diesmal abgerüstet. Es gibt nicht mehr die absolute Trennung von Sprache – Bild – Geräusche – Handlung, wie in früheren Arbeiten, sondern nur noch die Aktion hier, den gesprochenen Text dort. Auch das macht aus diesem kurzweiligen, wenn auch sehr düsteren Abend einen, der länger nachwirkt.

    "Ich hab's euch doch gesagt, ich bin der Anfang und das Ende. Ich habe euch sogar Bewusstsein gegeben. Ich habe euch nach meinem Bilde geschaffen, und was machen Sie' Sie gehen zum Friseur!"

    "Der Abend aller Tage", die erste Premiere der letzten Spielzeit von Karin Beier in der Ausweichspielstätte Expo XXI, beginnt mit einer Schwarzlichtpantomime. Gott ist eine weiß leuchtende Puppe, ein zottelbärtiger Greis wie aus dem Bilderbuch, der sich erst an seinem Heiligenschein abarbeitet und dann mal kurz die Welt erschafft, Keimzelle und Kaninchen, Einzeller und Eizelle, A und O entstehen leuchtend aus dem totalen Bühnendunkel. Ein zauberischer und sehr lustiger Anfang, doch eigentlich soll die Welt ja untergehen, weshalb jetzt eine Showbühne in silberfarbenen Glitzer-Look aufgefahren wird, die sich schon in den ersten Minuten durch erdbebenartige Erschütterungen halb selbst zerlegt. Die Schauspieler Maik Solbach und Sachiko Hara führen darauf ein von Kitsch, Komik, Larmoyanz und Trash geprägtes End-Spiel auf und sinnieren darüber, warum jeder vor dem Ende noch einem Sex haben will aber leider mit dem Falschen.

    "Maik, Christoph, Sachiko… "

    Nebel und Elektro-Orgel wabern, der nicht sehr anspruchsvolle Text wird mit Mikros bedeutungsvoll aufgeblasen, Gott funkt als Regisseur immer dazwischen, bis Suse Wächter als Kitsch-Madonna mit einer nackten Jesuspuppe auf dem Arm erscheint und der Kleine à la Rammstein die Halle rockt. Und: Bevor jetzt alle "Blasphemie" rufen, sei betont: die Sache ist harmlos und vollständig vom Grundrecht auf Kunstfreiheit gedeckt! In einer Art Double-Bind-Taktik zwischen Säuseln und Brüllen unterzieht das Jesuskind die menschlichen Todeskandidaten einer skurrilen Gehirnwäsche, die allerdings nur eins wollen, noch mal von vorn anfangen. Menschlich sehr verständlich, künstlerisch auch kein Weltuntergang, aber eben doch nur Pappmaché-Theaterdonner. Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend in Köln.