Dienstag, 23. April 2024

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Filzstiftorgie in konfuser Kulisse

Die klassische Liebesgeschichte von "Tristan und Isolde" ist von reichlich ideologiehaltiger Weltanschauung und tiefen Wahrheiten über Beziehungsprobleme. Die in Bonn gezeigte Version beschriftet das Werk allerdings nur in lichtem, transparentem Ambiente.

Von Frieder Reininghaus | 30.04.2013
    Ziemlich zu Anfang fragt die irische Prinzessin Isolde, die aus politischen Gründen mit dem südwestenglischen Regionalkönig Marke verheiratet werden soll und von dessen erstem Offizier Tristan per Schiff nach Cornwall transportiert wird mit Blick in die Runde: "Brangäne, sag, wo sind wir?" Daniela Denschlag, ausstaffiert mit einer Nickelbrille wie eine Gouvernante von 1865, antwortet mit bestechend aufmerksamem Sopran: "Blaue Streifen stiegen im Westen auf." Sie versucht ihre Chefin damit von der misslichen Situation, in der diese sich befindet, abzulenken. Was aber nicht gelingt. Die auffallend rotgoldblonde Dara Hobbs, eine hieb- und stichfeste Braut, simuliert outrierend den wuchtigen Stimmeinsatz. Sie reist auch als Stumme mit robustem Mandat in die neue Heimat, residiert wie eine supergermanische Verheißung aber in und neben einem in weiser Voraussicht aufgestellten Krankenbett.

    Die etwas konfuse Kulisse erinnert mit einem Mast an die Seefahrt früherer Zeiten und mit ramponierten Fassaden an Lagerhäuser. Überdeutlich wird gezeigt, dass "Verwundungen" Gebäuden wie Menschen treffen können. Nicht minder deutlich wird, dass die Selbstverwirklicherin Isolde allemal auch auf dem Weg schon am Ziel ist. Der Todestrank, den sie sich und Tristan verordnet, kommt aus einer Volvic-Flasche, wird aber zu 95 % verschüttet - fraglich also, ob die vermutete toxische Wirkung für den Suizid ausgereicht hätte. Da es nun freilich um einen kalorienfreien Liebestrank handelte, demonstrierte die Regisseurin Nemirova lediglich, dass gesunde Menschen in den besten Jahren sich notfalls auch ohne Psychopharmaka verlieben und Sex haben können. Wer hätte das gedacht.

    Das vom Zahn der Zeit angenagte Treibhaus, das sich vom Beginn des zweiten Aufzugs an auf der Bühne dreht, begünstigt die Transparenz der eskalierenden Liebe. Es erweist sich als günstig für das Triebleben der Seelen und Körper wie für die Triebkraft der Pflanzen und Klänge. Nachdem sie die Scheiben mit den zentralen Stichworten wie Tag, Tod, Mund, Herz, Du und Ich verziert haben, beschriften Tristan und Isolde sich gegenseitig als Vorspiel zum Liebesakt die Arme und Beine, den Frauenrücken und die Männerbrust. Mit der Filzstift-Orgie, die sich auf die schicklichen Körperteile beschränkt, enthebt Vera Nemirova ihre Hauptakteure der Peinlichkeit, sich in scheinerregender Weise auf dem Bett wälzen zu müssen. Ertappt wird das Paar dennoch, da die Regisseurin die Geschichte im Wesentlichen eins zu eins erzählt – und Tristan dann im Zweikampf verwundet.

    Das Gewächshaus bleibt dem Publikum auch im dritten Akt erhalten. Eigentlich bietet Tristans ferne Stammburg dem Rekonvaleszenten Schutz. Unter den geschickt gärtnernden Händen des getreuen Kurwenal, den Mark Morouse mit klarem sympathischem Bariton bestreitet, begrünt sich und erblüht das lädierte Glashaus prächtig. Aus langer Bewusstlosigkeit aufwachend, erinnert sich Robert Gambill an das gelöschte Liebes- und Lebenslicht, singt und spielt den schwer kranken Patienten mit den Anfechtungen des Wahnsinns atemberaubend. Die Personenführung erreicht hohe Plausibilität. Das zunächst unter langsame Tempovorgaben gestellte Beethoven Orchester nimmt zügige Fahrt auf und entwickelt hoch konzentriert die wünschenswerten Intensitäten.

    "Tristan und Isolde" – dieses unentrinnbare Ineinander von reichlich ideologiehaltiger Weltanschauung und tiefen Wahrheiten über die Beziehungsprobleme von Frauen und Männern verdient das, was neuerdings als "Aufklapptheater" denunziert wird (damit sind die analytischen Ansätze des "Regietheaters" gemeint). Ich jedenfalls wünschte mir, Vera Nemirova hätte das Werk und seine Protagonisten nicht nur in lichtem transparentem Ambiente beschriften und erblühen lassen sollen, sondern auf erkenntnisreiche und -kritische Weise "aufgeklappt".