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Fisch und Kommunismus

Montags: Fisch, dienstags: Fisch, mittwochs, zuweilen, habe es da Fleisch gegeben, erfährt man von Kristín Steinsdóttir. Mit dem Hörbuch "Leben im Fisch" legt die Kinderbuchautorin keine erfundene Geschichte vor , sondern erzählt von ihrer Kindheit in Island.

Von Florian Felix Weyh | 03.06.2011
    "Ich kriege immer Fieber, wenn ich an Heringe denke! An diese Zeit! Ich werde so glühend, das ist so ... Fieber, weil alles so aufregend war!"

    Heringsfieber, eine weitgehend unbekannte Spielart des Lampenfiebers?

    "Mir passte dieser Arbeitsgang sehr gut. Ich empfand das als eine - wie heißt das 'Ausforderung'? Oder? Dass ich nun mitten in der Nacht aufsteh und rausgeh und Kopf ab! Und alles ... ooooh, das hat mir alles wahnsinnig gut getan!"

    Und lässt auch heute noch, fünfzig Jahre später, die Erzählerin vor Begeisterung erglühen. 1961 war sie fünfzehn Jahre alt, ein Backfisch, aber angesichts der Umstände schon eine vollwertige Arbeitskraft. Denn im isländischen Fjord ihrer Heimat war ein Schatz entdeckt worden: Heringe, riesige Bestände, für die heimischen Fischer eine Verheißung sondergleichen. Bis dato hatte sich der materielle Wohlstand der Nachkriegszeit im 800-Seelen-Dorf nicht blicken lassen. Mit den Heringen brach die Moderne an - eine Moderne freilich, die zunächst aufopfernden Fleiß verlangte. Der Fisch, frisch an Land gebracht, musste verarbeitet werden, sofort, bei Tag und bei Nacht.

    "Wenn ich müde wurde, da hab ich gesungen, um mich wach zu halten. Laut gesungen. So was! Wenn so was singt, mitten in der Nacht, da schläft man nicht ein."

    Schlaf war der Fünfzehnjährigen ohnehin nicht so wichtig. Sie mochte keine Trägheit, wollte in Bewegung bleiben. Zur Anerkennung, als Jugendliche mit den Erwachsenen gemeinsam eine Arbeit zu leisten, trat der Wettbewerbsgeist hinzu:

    "Stand man an so einem Band mit Licht unten. Da strahlte das Licht so durch diesen Fisch, der filetiert worden war. Und man sollte gucken, ob da die Würmer sind! Und die dann rausziehen. Und ich hab mich nicht so sehr vor den Würmern geekelt, aber das war mir alles so langweilig! Ich mochte Akkord! Ich mochte auf meine Art und Weise arbeiten, schnell, schnell! Aber da hat man doch Stundenlohn bekommen, egal, wie viel man gearbeitet hat, egal, wie wenig man gearbeitet hat. Man hat immer dieselbe Bezahlung bekommen. Und das hat mich halt kaputt gemacht."

    Reichlich häretische Ansichten für die Tochter des prominenten Kommunisten im Dorf. Als Lehrer war Kristín Steinsdóttirs Vater zwar eine Respektsperson, aber wegen seiner politischen Orientierung nicht unumstritten. Dass er eines Tages eine Einladung zur Studienreise nach Moskau erhielt, machte die Sache kaum besser. Lehrerkind und Kommunistentochter - wahrlich ein schweres Los:

    "Ich hatte mir nämlich sagen lassen, dass ich rote Haare und Sommersprossen hätte, weil mein Vater Kommunist war! Und ausgerechnet ich und meine Schwester, wir hatten leuchtend rote Haare und Sommersprossen, und ich hatte sogar auch schiefe Zähne. Und das kam alles davon, dass mein Vater Kommunist war, und wenn er nun so ein blödsinniger Konservativer gewesen wär, da wär ich wahrscheinlich mit hellen Haaren aufgewachsen und braunen Augen und weiß ich nicht! Und das hab ich alles geglaubt."

    Es ist die naive Erzählperspektive des Kindes, die dieser CD-Edition ihren Charme verleiht. Wie zuvor die Kindheitserinnerungen von Hertha Müller und Peter Kurzeck, entstand auch "Leben im Fisch" ohne jedes Manuskript. Die isländische Jugendbuchautorin Kristín Steinsdóttir, Jahrgang 1946, lässt ihren Erinnerungen freien Lauf, ohne sich einem strengen Leitfaden zu unterwerfen. Der Lebensweg des kommunistischen Vaters im Kalten Krieg - immerhin war Island US-Militärstützpunkt - bleibt Nebensache, denn das Kind nahm anderes als wichtiger wahr. Immer wieder im Zentrum steht der Fisch, als Naturreichtum, Arbeitsbringer und tägliche Nahrung:

    "Wie gesagt Fisch, Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag. Und dann war manchmal Mittwoch Fleisch, aber nicht immer. Wenn ich Fleisch sage, da war es natürlich nur Lammfleisch! Wir hatten keine Gemüse. Ich hatte keine Gemüse gehabt als Kind, und die Möhren, die kamen erst später. Es waren Steckrüben und Kartoffeln."

    Karg kommt die Kindheit daher, wie es im Mitteleuropa dieser Jahre schon längst nicht mehr üblich war. Doch die Stimmung am nördlichen Rand der Welt trübte das nicht, jedenfalls nicht in der Erinnerung. Kristín Steinsdóttir ist ganz bei sich, wenn sie von den langen, dunklen Nächten erzählt und von der Sensation, die ein paar frische Äpfel darstellten. Unser Islandbild von heute mit seiner Bankenkrise und der Hightech-Modernität bekommt eine eigentümlich vergilbte Färbung, während man drei Stunden lang der vorzüglich deutsch sprechenden Autorin lauscht. Der Weg ihrer Heimat aus dem 19. ins 20. Jahrhundert vollzog sich nicht allmählich, sondern durch die Heringsschwärme und den damit verbundenen Reichtum plötzlich und explosionsartig. Lebenspraktiken, die zuvor der Armut geschuldet waren, erscheinen der Erzählerin heute nachgerade beschämend. Etwa die Sache mit den Tellern:

    "Und was am Widerlichsten ist, das kann ich kaum sagen. Bei uns heißt es 'Die Zunge ... ', - hieß es, hieß es! - 'Die Zunge der Hunde, die Hundszunge ist rein!' So haben die Hunde das abgeleckt nach dem Essen. Es wurde nicht gewaschen. Es wurde abgeleckt von den Hunden, und dann wieder bekam man am nächsten Tag ... jaja, und davon viele Leute wurden krank. Es ist schwer, so was zu erzählen. Aber so war es halt!"

    So war es halt. Gut, davon gehört zu haben.

    Kristín Steinsdóttir: "Leben im Fisch. Kristín Steinsdóttir erzählt das Island ihrer Kindheit." supposé, 3 CDs, 29,80 Euro