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Fischerei auf Rügen
Hering im neuen Design

Fangquoten für Heringe und gesunkene Erträge machen den Fischern auf der Insel Rügen zu schaffen. Ein Verein von Fischern aus Hiddensee vermarktet die Heringe neuerdings in hübsch gestalteten Dosen als edle Feinkost. Seitdem ist das "Silber des Nordens" wieder ein echter Wirtschaftsfaktor.

Von Franz Lerchenmüller | 23.06.2019
Luftaufnahme mit Arbeitsbooten von Fischern, die am Strand der Ostsee auf der Insel Rügen liegen.
Fischerboote am Strand auf Rügen (Stefan Sauer / dpa-Zentralbild / dpa)
Morgens um neun im Hafen von Barhöft. Die Winde zieht weitere drei Meter Netz und Fisch vom Deck des Kutters hoch auf die stählerne Rutsche. Die Männer in rotem und gelbem Ölzeug, das von silbernen Schuppen gesprenkelt ist, strecken kurz ihren Rücken. Gleich geht die Arbeit weiter. Fisch um Fisch, Stück für Stück, Hunderte, Tausende. Mit den Händen in schleimverschmierten, blauen Gummihandschuhen pulen sie die Heringe sorgfältig aus den Maschen. Der Arbeitstag hat für Stefan Schnorrenberg und seine Leute früh begonnen.
"Wir fahren morgens raus, setzen die Netze aus, wir haben hier acht Längen, und eine Länge ist ungefähr 250 Meter lang. Und dann fahren wir am nächsten Morgen um vier los, holen die Netze auf und sind dann meist um acht wieder im Hafen und dann kommt der anstrengende Teil: die ganzen Heringe je nach Fang auspulen. Morgens geht es immer ein bisschen schneller, aber umso länger der Tag, dann wird man auch selbst langsam."
Fischer auf dem Greifswalder Bodden
Fischer auf dem Greifswalder Bodden mit Heringen an Bord. (picture alliance / dpa / Foto: Jens Büttner)
Fisch spielt an den Küsten von Mecklenburg-Vorpommern schon immer eine große Rolle, erklärt der Marinehistoriker Thomas Förster im Meeresmuseum von Stralsund.
"Es ist überliefert seit der Hansezeit, dass beispielsweise Hering auf Rügen angelandet wurde. Davon zeugen Flurnamen. Wir haben vielfach die Ortsbezeichnung Vitt, für ehemalige Fischereivitten. Und natürlich dann auch über die Jahrhunderte, dass man dort auch vielfach Fischerbauern hatte, die zum Teil als Fischer tätig waren, aber dann auch einen entsprechenden Acker hatten, Vieh hatten, um zu überleben."
Kinderstube Bodden
Dass es rund um Rügen reichlich Fisch gibt, hängt mit der geographischen Situation zusammen, sagt Nationalpark-Ranger Bernd Hoppmann, der heute mal einen Bürotag einlegt. Insbesondere die Bodden spielen eine wichtige Rolle. Die Bodden?
"Kleine, abgetrennte Buchten, die manchmal ganz, ganz wenig durchflutet vom Ostseewasser werden, die zum Teil sehr flach ausfallen, wir gehen hier manchmal von einer Tiefe von maximal acht Metern aus, so dass sich diese Gewässer im Frühjahr schnell erwärmen und dadurch hervorragende Laichbiotope bilden."
Das Wasser in diesen Bodden hat aber auch noch eine andere Besonderheit.
"Wir reden ja hier nicht von Salzwasser, sondern Salzwasser, das ganz stark durch die Flüsse, den Regen beeinflusst ist, dadurch eine gewisse Aussüßung hat und wir praktisch Fische hier auch leben haben, wie Zander, Flussbarsch, eigentlich typische Süßwasserfische."
Viele Fische nutzen die Bodden deshalb als Kinderstube. Einer aber taucht jedes Jahr in riesigen Mengen auf.
"Jetzt kommt der Hering, unsere Ostseehering in unsere Gefilde zu Scharen. Und legt dann die Eier ab, die vermischen sich mit dem Sperma der männlichen Tiere. Und bleiben dann an den Schilfgürteln, an den Unterwasserpflanzen im warmen Wasser kleben und werden dann natürlich von vielen Räubern auch genutzt als Nahrung. Sie produzieren aber so viel Nachwuchs, dass der Bestand immer wieder gesichert ist."
Heringe als Wirtschaftsfaktor
Gefischt wurde der Hering schon seit Jahrhunderten. Ein richtiger Wirtschaftsfaktor aber wurde er erst Ende des 19. Jahrhunderts, sagt Thomas Förster.
"Die Fischerei hat dann eine größere Bedeutung gewonnen, indem Rügen auch zunehmend erschlossen wurde über ein Eisenbahnnetz. Das geht im Prinzip los Ende des 19. Jahrhunderts, als Saßnitz eine größere Bedeutung als Fischereihafen bekam und man von dort den Fisch ins Binnenland transportieren konnte."
Die Boote, mit denen man damals gefischt hat, hießen Zeesboote.
"Ein Zeesboot ist ein Segelschiff, hat anderthalb Masten und die Besonderheit der Zeesboote ist, dass sie, seitlich mit dem Wind driftend, ein Netz gezogen haben."
Zeesboot "Blondine" im Boddenhafen von Ahrenshoop.
Zeesboot "Blondine" im Boddenhafen von Ahrenshoop. (picture alliance / dpa /Bernd Wüstneck)
Mal waren die Fänge gut, mal eher mau. Mit dem Fangglück hatten Fischer schon immer zu kämpfen. Und auch mit einem anderen Konkurrenten, der den Hering ebenfalls über alles liebt: Der Saalhun, der Seehund...
Nach dem Krieg waren die Seehunde, die Robben fast ausgestorben. In den letzten Jahren haben sich die Bestände wieder erholt. Und die Konkurrenz zwischen Mensch und Tier ist wieder aufgeflammt.
"Wir hatten vorgestern, und ein Netz ist auch heute beschädigt von Robben, da sind große Reißlöcher drin und ein bisschen Hering zermatscht. Das wird immer stärker werden, das Problem mit den Robben. Und wenn man nachher der einzige Fischer ist, der noch Hering fischt, dann sind die Robben auch beim einzigen Fischer."
Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte preiswerte Nahrung an allen Ecken und Ende. Fisch sollte dem Mangel abhelfen.
"Es gab dann 1947 einen Befehl der russischen Besatzungsmacht, die einfach gefordert haben, hier eine Flotte von 50 Kuttern zu schaffen, die für die Versorgung der Bevölkerung eingesetzt werden sollen. Das waren in der Regel hölzerne Kutter, 17-Meter-Kutter, die dann doch recht effektiv gefangen haben. Was natürlich auch eine Rolle spielt: Dass dann hier in Mecklenburg-Vorpommern sehr viele Fischereifahrzeuge gebaut wurden, wobei ein Großteil dieser Fahrzeuge als Reparationsleistung an die Sowjetunion ausgeliefert wurde."
Fisch und Diesel wurden subventioniert
Auch an den Küsten Rügens lebte die Fischerei wieder auf. Willi Levetzow lernte den Beruf von der Pike auf. Heute arbeitet er als Räuchermeister in einer Gaststätte.
"Ja, das sind unsere Räucheröfen. Hier haben wir auf den Rosten unseren Stremellachs liegen, darüber haben wir Lachsspieße, und unten Makrelenfilets. Räuchern tun wir ausschließlich mit Buchenholz, und um richtig Rauch zu geben, nehmen wir Sägespäne, auch Buche."
Nach dem Ende seiner Lehrzeit auf Rügen bildete er mit zwei Kollegen zusammen eine Brigade und arbeitete in einer Genossenschaft.
"Vater und Sohn und ich. Wir drei haben uns dann einen Kutter gekauft. Und dann haben wir da gefischt. Erst angefangen mit Stellnetzen. Und dann auch mit Reusen gefischt. Plötzen, Barsche, Blei, Hering, der zur Laichsaison reinkommt, der Hornfisch, Hechte, Zander - damals gab es noch welche."
An guten Tagen fanden die Männer in der Reuse bis zu drei Tonnen Fisch vor. Die an Land zu bekommen, war ein richtiger Kraftakt.
"Man hat diese drei Tonnen draußen einmal aus dem Wasser ins Boot rein, und drinnen jetzt nochmal drei Tonnen nach oben geschaufelt. Und nachher nochmal auf den LKW geladen. Die ersten Jahre hatten wir ja nicht mal ein Förderband. Wir hatten damals diese Holzkisten. Gabelstapler, sowas kannten wir alles gar nicht."

Mit dem, was sie verdienten, waren die Männer durchaus zufrieden, denn Fisch und Diesel wurden in der DDR subventioniert. Viel schwieriger war es, das Boot gut in Schuss zu halten.
"Ersatzteile, Getriebe oder so, da sind wir dann durch die ganze DDR gereist. Unser Getriebe, das wir hatten, wurde in Gotha hergestellt, für Kuba, und da sind wir dann hingereist, um ein bisschen was an Ersatzteilen zu kriegen, das war immer schwierig. Da haben wir manchmal drei, vier Tage stillliegen müssen, mitten im Fang, um das wieder zum Laufen zu kriegen."
Aber es gab eine Währung, die half meistens weiter. Sie ist lang und dünn, elastisch und braun: Der Aal.
"Meistens lief alles über den Aal. Wenn man damit losfuhr, hat man auch was gekriegt. Mit dem Aal war das ja so: Grün gefangen, braun gemacht, schwarz verkauft – so hieß das ja damals."
Ein Heringsschwarm mit Makrelen.
Wirtschaftsfaktor schon zu DDR-Zeiten: Heringsschwarm mit Makrelen. (picture alliance / Hinrich Bäsemann)
Rostocks Hochseefischer fischten in allen Weltmeeren
Doch nicht alle Fischer von Rügen hielt es in den Küstengewässern. Im Meeresmuseum von Stralsund erinnert ein Film auch an die Hochseeflotte der DDR.
"Rostocks Hochseefischer fischten in allen Weltmeeren. Weder Sturm noch arktische Kälte konnten sie davon abhalten. Sie vollbrachten wahre Heldentaten. Und zwar Männer und Frauen, um ihren Auftrag zu erfüllen, Fische zu fangen, damit die Menschen was zu essen haben."
Die alt gewordenen Fischer erzählen von Sturzseen, Stürme und Schwerstarbeit an Bord.
"Wir haben mit 18 Mann an Deck gestanden und haben gearbeitet, Tag und Nacht rund um die Uhr, bis zu 70 Stunden hintereinander und sind aus den Stiefeln nicht rausgekommen."
Der große Stolz der DDR waren die Atlantik-Supertrawler, von denen über 200 in Stralsund gebaut wurden. Ab den 70er-Jahren waren ganze Fangflottillen unterwegs - vor allem im Atlantik.
"Man hat aber dann auch gefischt bis nach Südafrika, auch vor Mosambik teilweise, wobei man auch nicht verschweigen soll, dass diese doch sehr großen Fischereifangflotten zu der Überfischung geführt haben, einem Problem, mit dem wir heute noch zu kämpfen haben."
Der ehemalige DDR-Fischtrawler "Stubnitz" wurde 1992 umgebaut und bietet seitdem einen Veranstaltungsort für die alternative Kunstszene.
Ehemaliger DDR-Fischtrawler "Stubnitz", heute als Veranstaltungsort für die alternative Kunstszene im Einsatz (dpa / picture alliance / Zentralbild)
Es waren riesige Verarbeitungsanlagen mit enormen Kapazitäten, die auf den Weltmeeren unterwegs waren.
"Also der Name sagt es ja schon, dass man eine Fabrik in einem Schiff untergebracht hat und dieses Schiff dann auf den Meeren unterwegs war. Das sind die Verarbeitungsmaschinen, wo der Fisch dann ankam, ausgenommen wurde, filetiert wurde. Dann für den Beifang, für die Teile, die ausgeweidet wurden, die gingen dann in eine Fischmehlanlage. Das Fischmehl wurde dann in entsprechenden Bunkern zwischengelagert. Dann natürlich der Fisch, der verarbeitet war, der wurde dann eingefroren. Eben auch die entsprechenden Eismaschinen bzw. die entsprechenden Gefrierräume."
Ein kleines Dorf war jedes dieser Schiffe, mit ganz eigener Infrastruktur.
"Auf diesen größeren Fahrzeugen konnten schon an die hundert Personen sein, natürlich auch Betreuung, Stewardessen, eine medizinische Versorgung. Es gab Schichtbetrieb, und was natürlich den ganzen Tagesablauf an Bord dominiert hat, ist der Fisch. Wenn Fisch kam, wurde bis zum Umfallen gearbeitet."
"Zu DDR-Zeiten war der Beruf als Fischer – ja, da hat man was verdient. Ob das nun in der Genossenschaft war, die gefischt haben oder die im Kombinat gefahren sind, da hatte der Fisch einen Wert gehabt und der Fischer hat auch verdient. Gab Festgehalt und Fangprozente, da wars schon sicherer als heute."
Fangquoten und sinkende Erträge
Stefan Schnorrenberg hat nur noch das Ende dieser Zeit erlebt. Heute ist manches anders. Der Fisch ist viel weniger geworden, die Fischer müssen sich an streng kontrollierte Quoten halten. Die Bürokratie hat enorm zugenommen. Und der Preis für den Hering ist gerade in den letzten Jahren stark gesunken.
"Wir haben ja im Großhandel meist nur einen Appel und ein Ei gekriegt für den Hering, und manchmal ließen sie das Ei auch weg, und davon kann man ja auch nicht seine Familie ernähren und davon leben."
Halbwegs zufrieden mit ihrem Einkommen sind deshalb nur Fischer, die ihren Fang selbst in Fischbrötchen an Touristen verkaufen oder im eigenen Restaurant brutzeln. Überleben wird nur, wer pfiffige Ideen entwickelt.
"Und da sind wir mit Herrn Schilling darauf gekommen, dass wir mal selber den Hering in die Dose kriegen. Und so haben wir zusammengesessen und sind auf die Idee gekommen mit den Dosen."
Die Zukunft des Herings - als Feinkost
Mathias Schilling ist Bauer und Gastwirt auf Rügen. Zwei Gedanken trieben ihn an: Wenn der Hering, erstens, endlich sein Image als Armenfisch abstreifen würde, müssten seine fischenden Nachbarn, zweitens, endlich gut von ihrer Arbeit leben können. Aber wie könnte das gehen?
"Indem wir gesagt haben, wir gucken mal in der Welt, wie andere Leute das machen. Dann haben wir gesehen, okay, die Portugiesen machen Sardinen in Dosen, die Franzosen machen das auch, schicke bunte Bilder. Und es gibt ja hier Dosenproduzenten auf Rügen, das kann doch nicht sein, dass wir das nicht alles miteinander verbinden können. Und dann hab ich mich auf die Reise gemacht, Produzenten zu suchen, die diesen Fisch eindosen."
Parallel dazu gründeten er und acht Fischer zusammen den Verein Hiddenseeer Kutterfisch. Sie ließen den Hering eindosen und packten ihn in vornehme graue Schuber aus Pappe, jeder versehen mit einem stimmungsvollen Foto.
"Dann haben wir aber gesagt, wir wollen das regional verankern und haben deswegen Bilder von Hiddensee, von Kuttern, von Fischern: Wir haben ein ganz tolles Bild, das ist durch Zufall entstanden mal, am Hafen, wo alle Fischer zusammen kamen, die haben wir gemeinsam fotografiert und das ist ikonenhaft geworden für Hiddensee mittlerweile."
Rund vier Euro kostet eine Dose Bückling in Öl, ein stolzer Preis. Die Fischer erhalten einen Euro pro Kilo Hering, mehr als das Doppelte dessen, was der Großhandel zahlt. Und der Verkauf lief von Anfang an gut.
"Wir nehmen uns vor, mindestens 100 000 Dosen dieses Jahr zu produzieren und zu verkaufen. Das ist jetzt das Doppelte vom letzten Jahr, wobei: das war schon die Verdoppelung vom Jahr davor, also wir sind ganz zuversichtlich. Im ersten Jahr aus dem Stand knapp 20 000 Dosen zu verkaufen, das war ein toller Start – zu zeigen, dass es funktioniert, das war das allerwichtigste."
Inzwischen findet sich die feine Ware in den Katalogen von Feinkost-Firmen und in den Regalen hochpreisiger Kaufhäuser. Ob das aber ausreichen wird, das Überleben der Küstenfischerei auf Rügen sicherzustellen? Aus Sicht der EU taugen die paar kleinen Fischer mit ihren paar kleinen Kuttern gerade noch als folkloristisches Accessoire für meerliebende Touristen. Wirtschaftlich spielen sie in den Planungen längst keine Rolle mehr.
"Ob wir jetzt damit diesen Wirtschaftszweig erhalten können, weiß ich nicht. Ich bin aber frohen Mutes, dass wir ein Stück dazu beitragen können, auf jeden Fall sein Leben zu verlängern."
Vielleicht aber sind die Hiddenseeer Fischer auch, preislich, nur ihrer Zeit voraus. Wenn die Fangquoten für Hering weiterhin so radikal sinken, wird der Fisch irgendwann zur teuren Spezialität werden. Und das "Silber des Nordens" erzielt dann endlich den Preis und erhält die Wertschätzung, die ihm immer schon zustehen.