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Fischers Kampf an vielen Fronten

Bei seinem Amtsantritt beruhigte Außenminister Joschka Fischer die Diplomaten: Wenn im Amt Mist gebaut werde, habe er das nach außen zu verantworten. Sechs Jahre später, in äußerster Bedrängnis, muss Fischer vor dem Visa-Untersuchungsausschuss erneut über die Ministerverantwortung sprechen

Von Silvia Engels und Karl-Heinz Gehm | 22.04.2005
    Amtsübergabe. An jenem 28. Oktober 98 endet eine Ära. Nach 29 Jahren der Machtwechsel - von der FDP zu den Grünen. Im Weltsaal des Auswärtigen Amtes in Bonn werden die einschlägigen Reden gehalten. Der neue Minister dämpft artig die Skepsis der versammelten Diplomaten gegenüber dem Frankfurter Ex-Sponti und gibt sich devot:

    "Wenn man die Reden hier so gehört hat, dann fühlt man sich fast an einen historischen Satz erinnert, "Mönchlein, Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang."

    Die Diplomaten sind vom neuen Minister durchaus angetan. Der zeigt sich in seiner Antrittsrede flexibel, selbstbewusst. Er stehe zur Ministerverantwortung, sagt Fischer. Wenn im Amt Mist gebaut werde - Diplomaten zucken - habe der Minister das nach außen zu verantworten. Etwas anderes sei, fügt Fischer hinzu, wie man intern damit umgehe.

    Genau das ist die Frage. Denn sechs Jahre später, in äußerster Bedrängnis, muss Fischer erneut zur Ministerverantwortung Stellung nehmen. Seine Worte klingen vertraut:

    "Für mögliche Versäumnisse und Fehler meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trage ich die politische Verantwortung. Es gilt als Prinzip der Ministerverantwortung und ich stehe hier vor meinen Mitarbeitern."

    Was Fischer vor zwei Monaten im Schneegestöber vor der Parteizentrale der Grünen im Berliner Regierungsbezirk zu erläutern versucht, schlägt voll auf ihn zurück. Nicht die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes stehen im Fadenkreuz der öffentlichen Kritik, es ist Fischer selbst, der in die Schusslinie geraten ist. Und dies bei der Visa-Politik, einem heiklen, überaus sensiblen Thema, das die Union voll gegen Fischer instrumentalisiert:


    "Rund fünf Millionen Menschen sind mit Hilfe dieses Rechtsbruches nach Deutschland und in die europäischen Partnerstaaten eingeschleust worden, halten sich illegal in den europäischen Ländern auf. Fördern Schwarzarbeit, Prostitution und Menschenhandel und andere kriminelle Machenschaften und Sie sind dafür der Zuhälter, wenn man so will, Herr Bundesminister."

    Die Frage, ob das Auswärtige Amt durch eine laxe Visa-Politik die organisierte Menschenschleusung aus der Ukraine begünstigt hat, beschäftigt die Union seit Februar 2004. Nach vielen parlamentarischen Anfragen setzt sie am 17. Dezember einen Untersuchungsausschuss durch. Ein Vorgang, den die grüne Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Müller noch im November 2004 als Tiefpunkt der Unions-Propaganda bezeichnet hat.

    "Wir sehen dem sehr gelassen entgegen, weil wir wissen, dass an Ihren Behauptungen einfach nichts dran ist."

    Die Bundesregierung, so die Staatsministerin, betreibe eine verantwortungsvolle, sachgerechte und rechtsstaatliche Visumpolitik. Und überheblich argumentiert Rot-Grün, in wenigen Wochen werde sich der Untersuchungsausschuss als Rohrkrepierer für die Union erweisen. Ein fataler Irrtum. Denn anderthalb Jahre vor den Bundestagswahlen rückt der Außenminister, ein Garant der rot-grünen Koalition, voll in die Schusslinie:

    "Da sind Schleußer eingereist, Kriminelle eingereist, Prostituierte eingereist und das Auswärtige Amt unter der Führung des Bundesaußenministers Fischer hat alles in den Wind geschlagen …"

    Die Konsequenz liegt auf der Hand. Eckardt von Klaeden, der Obmann der Union im Visa-Untersuchungsausschuss und Joschka Fischer, der Außenminister:

    "Wenn man die Maßstäbe anlegt, die an andere Minister angelegt werden, dann müsste er zurücktreten.
    Dass Sie sich das wünschen, das verstehe ich, würde ich mir umgekehrt auch wünschen. Aber ich werde es nicht tun."

    Fischer gibt sich seltsam unentschlossen in diesen Wochen, strategisch nicht auf der Höhe, entrückt, unerreichbar für die Medien. Das gewohnte Kämpfertum ist Fehlanzeige. Dabei weiß jeder, was sich zusammenbraut, auch Fischer. Als der Spiegel mit einer ersten üppigen Titelgeschichte über "Fischers Schleußer Erlass" das publizistische Scharfschießen eröffnet, ist der Außenminister auf einwöchigem Südostasien-Trip, voll informiert - und völlig sprachlos.

    Die Bündnis-Grünen in Berlin offenbaren tagtäglich ihre strategischen Unzulänglichkeiten. Der Außenminister und heimliche Vorsitzende pendelt irgendwo zwischen Australien, Indonesien und Thailand und bekennt, dass er, wieder zurück in Deutschland, einiges in die Zähne kriegen wird. So ist es. Alsbald muss Fischer feststellen, dass seine Popularitätskurve jäh abstürzt, auch bei den Journalisten:

    "Ich schätze 80 bis 90 Prozent der Journalisten halten ihn für arrogant und selbstherrlich.

    Er ist zu lange von den Medien überhöht worden.
    Manchmal ist dieser Joschka Fischer ein solcher Kotzbrocken im Umgang mit anderen Leuten.

    Also, er kann sehr charmant, sehr freundlich sein; er kann in höchstem Maße herrisch, überheblich, arrogant sein.
    Er ist halt eben in gewisser Weise immer noch ein Rowdy, das muss man wissen. Dann spielt man halt Rugby."

    Und das Spiel wird hart. Die Regeln sind die im Politgeschäft üblichen: die Opposition attackiert, Rot-Grün praktiziert den Schulterschluss und der Kanzler stellt sich demonstrativ hinter seinen Vizekanzler:

    "Wenn die Opposition aber glaubt, den Außenminister kippen zu können, dann irrt sie gewaltig. Joschka Fischer hat mein volles Vertrauen und meine volle Unterstützung, und er hat die Unterstützung der gesamten Koalition."

    Fischer ist inzwischen problembewusst, sensibel angesichts der Risiken. Vor grünen Parteifreunden in Köln, der nordrhein-westfälische Wahlkampf steht bevor, erklärt der Außenminister:

    "Ich habe in den Jahren 2000 bis 2002 nicht schnell, nicht entschlossen, und nicht umfassend genug als verantwortlicher Minister gehandelt."

    Doch was ist inhaltlich dran an den Vorwürfen? Hat grüne Visa-Politik im Auswärtigen Amt den massenhaften Missbrauch von Einreisepapieren ermöglicht und so die organisierte Schleußer-Kriminalität begünstigt? SPD und Grüne sagen Nein. Ihrer Ansicht nach belegen Zeugenaussagen aus dem Auswärtigen Amt, dass das Ministerium unter Fischer die Leitlinien der Visa-Politik fortsetzte, die schon unter den liberalen Außenministern Genscher und Kinkel entwickelt worden war.

    "Alles das, was wir dort an Entscheidungen aus den Jahren 1999 und 2000 kennen, steht in einer sehr klaren Kontinuitätslinie von Entscheidungen, ja fast von Formulierungen, die schon aus der Zeit von ´95, ´97 stammen."

    Olaf Scholz und Rot-Grün stützen sich darauf, dass schon die Vorgängerregierung in ihrer Visa-Politik mit einem Zwiespalt kämpfte: Einerseits eine unkomplizierte, schnelle Einreise zu ermöglichen, um Wirtschaft, Tourismus und Kulturaustausch zu fördern, andererseits das Land vor illegaler Zuwanderung zu schützen. Die 1999 angestoßene Reform der Visa-Politik sollte daran nichts ändern, diente aber nach Aussage des damaligen Staatsministers, Volmer, der Beseitigung von humanitären Härtefällen. Fragwürdige Einreisewünsche habe man weiterhin abgelehnt:

    "Ich denke, es ist ein Indiz dafür, dass es um alles andere ging, als darum, grüne Illusionen - wie mancher sagt - umzusetzen, sondern es ging uns darum, die Probleme, die wir vorgefunden haben, 1998ff. zu lösen."

    Schon Mitte der 90er Jahre beantragen Hunderttausende an den Botschaften in Mittel- und Osteuropa Touristenvisa für Deutschland, Tendenz steigend. Um illegale Zuwanderung zu verhindern, müssen die Visa-Stellen prüfen, ob Zweifel bestehen, dass der Reisende nach drei Monaten zurückkehren will. Der Besuchswillige muss daher unter anderem belegen, dass er über genügend Geld für Aufenthalt und Rückkehr verfügt. Um diese Solvenz zu beweisen, gibt es drei Möglichkeiten. Die wichtigste: Ein Gastgeber lädt den Reisenden ein und versichert per Verpflichtungsermächtigung, für dessen Unterhalt aufzukommen. Wenn der Reisende zweitens belegen kann, dass er eine Pauschalreise gebucht hat, kann das die Genehmigung erleichtern. Neben diesem ‚Reisebüro-Verfahren’ existiert seit 1995 ein drittes Hilfsmittel: Das "Carnet de Touriste". Es versichert den Gast gegen Krankheit und springt ein, wenn er deutschen Behörden Kosten verursacht.

    Reisebüroverfahren und Reiseschutzversicherung sollen Besuche erleichtern. Sie werden aber missbraucht - speziell in der Ukraine, wo sich Schleußerbanden ab dem Jahr 2000 dubiose Reiseschutzversicherungen und Einladungen nach Deutschland verschaffen und teuer verkaufen. Das Visum wird damit indirekt käuflich und das Prüfsystem unterlaufen. Darüber herrscht Einvernehmen zwischen Regierung und Opposition. Aber wer ist schuld? SPD-Obmann Scholz argumentiert, dass Reisebüroverfahren und Reiseschutzpässe schon unter Außenminister Kinkel erfunden wurden:

    "Ich bin überzeugt, dass die schon in den 90er Jahren etablierten Verfahren missbraucht worden sind, und viel wichtiger waren als z. B. der Erlass, den Herr Volmer verantwortet hat. Der hat auch seine Bedeutung gehabt, aber im Mittelpunkt stehen wohl diese Dinge, die viel älter sind, als die jetzige Regierung, und wo es gut ist, dass die jetzige Regierung sie zu einem richtigen Zeitpunkt beendet hat."

    Das Reisebüroverfahren wird in Kiew im Oktober 2001 eingestellt, das Reiseschutzpassverfahren läuft noch bis Ende Juni 2002 weiter.

    Die Oppositions-Abgeordneten machen dagegen allein Rot-Grün verantwortlich für massenhaften Visa-Missbrauch. Aus den Zeugenaussagen ziehen sie den Schluss, das Auswärtige Amt unter Fischer habe die Visa-Vergabe zu weit gelockert. Laut CDU-Obmann von Klaeden ist …

    "… eindeutig nachgewiesen, dass die Regeln, die getroffen worden sind, mit dem Volmer-Erlass und mit den alten Erlassen aus dem Jahre 1999 gegen den Schengen-Vertrag verstoßen."

    Im September und Oktober 1999 weist das Auswärtige Amt die Botschaften an, auf eine eingehende Prüfung "in der Regel" zu verzichten, wenn der Antragsteller ein Carnet de Touriste vorlegt. Was in der Amtszeit Kinkels noch Hilfsmittel gewesen sei, hätte Rot-Grün zur Grundlage der Visa-Erteilung gemacht, beklagt der FDP-Obmann Königshaus.

    "Das Carnet de Touriste ersetzte auf einmal die Prüfung der zwingend nach dem Schengen-Abkommen vorgeschriebenen Prüfungen. Und das ist genau das Rechtswidrige und deshalb gibt es hier keine Kontinuität, das genaue Gegenteil ist richtig."

    Dass die Erlasse aus dem Jahr 1999 den Missbrauch durch Schleußer-Banden förderten, räumt unterdessen sogar Fischer ein:

    "Ich habe zwei Fehler gemacht hat. Denn in meiner Zeit als Minister im Herbst 1999 wurden zwei Erlasse durchgeführt, die dieses missbrauchsanfällige Instrument – vor allen Dingen der Reiseschutzversicherung – noch missbrauchsanfälliger gemacht hat. "

    Die spätere Richtlinie vom 3. März 2000 jedoch, die als Volmer-Erlass bekannt wurde, nimmt Fischer ausdrücklich in Schutz. Auch die rot-grünen Abgeordneten im Ausschuss sehen im Volmer-Erlass keine Fehler. Er weist ab Frühjahr 2000 die Visa-Stellen an, das reguläre Prüfverfahren beizubehalten. Reiseschutzpässe und das Reisebüroverfahren gelten unverändert fort. Am Ende der Prüfung, vor der Visa-Vergabe, soll gelten:

    "Nicht jeder Zweifel, sondern erst die hinreichende Wahrscheinlichkeit der fehlenden Rückkehr-Bereitschaft rechtfertigt die Ablehnung eines Besuchsvisums. Wenn sich nach pflichtgemäßer Abwägung und Gesamtwürdigung des Einzelfalls die tatsächlichen Umstände, die für und gegen eine Erteilung des Besuchsvisums sprechen, die Waage halten, gilt: In dubio pro libertate – im Zweifel für die Reisefreiheit."

    Wie dieser Satz zu werten ist, daran entzündet sich der Hauptstreit im Untersuchungsausschuss. Ex-Staatsminister Volmer verteidigt:

    "Diese Formel bezieht sich ohnehin nur auf die Prüfung der Rückkehrbereitschaft. Und ein Einreisebegehren konnte schon an vielen anderen Kriterien scheitern. Es ging nur um die Rückkehrbereitschaft, und auch da nur um den Fall, dass alle Umstände abgewogen worden sind, und im Einzelfall Unsicherheiten bestehen."

    Der Erlass habe den Botschaften die Möglichkeiten gelassen, Widersprüche der Antragsteller auszuloten und ein Visum abzulehnen. Ähnlich argumentieren Beamte des Auswärtigen Amtes vor dem Ausschuss. Einige machen einzelne Botschaften mitverantwortlich für die laxe Visa-Vergabe. So Roland Lohkamp, damals Leiter der zuständigen Unterabteilung im Auswärtigen Amt:

    "Im Zweifel für die Reisefreiheit wurde von Einzelnen so ausgelegt, als ob Verwurzelung und Rückkehrbereitschaft des Antragstellers nicht mehr zu prüfen seien. Das war natürlich nicht so, das war ein Missverständnis."

    Ganz anders sehen das Union und FDP. Sie interpretieren den Volmer-Erlass so, dass die Visa-Stellen in der Praxis nicht mehr ausführlich prüfen konnten und im Zweifel für den Antragsteller entscheiden sollten. Gestützt wird diese Auslegung durch den deutschen Botschafter in Kiew, Dietmar Stüdemann. Der argumentiert, nicht mehr der Antragsteller habe seine guten Absichten belegen müssen, vielmehr habe der Prüfer nach hinreichenden Zweifeln suchen müssen. Auch der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Ernst-Jörg von Studnitz, erinnert sich:

    "Der Volmer-Erlass ist zunächst einmal als eine Erleichterung empfunden worden, das man also jetzt an Stellen, vielleicht großzügiger würde verfahren können. Allerdings ist das ja dann sehr schnell in der Botschaft Moskau - deshalb hat die Botschaft Moskau ja auch sehr bald dagegen demonstriert - hat man gemerkt, dass das so nicht ginge. Und das ist ja auch der Grund gewesen, weshalb wir schon drei Wochen nach Erlass dieser neuen Anordnung sagten, damit kommen wir nicht zu Rande."

    Stüdemanns Aussage ist Wasser auf die Mühlen von CDU-Obmann von Klaeden:

    "Er selber hat in beeindruckenden Worten deutlich gemacht, dass sich die Botschaft immer wieder gegen die Schwierigkeiten gewehrt hat, und von der Zentrale gezwungen worden ist, der Erlasslage zu folgen, und dass man deswegen nicht wirksam gegen die Schleuser-Kriminalität und gegen die illegale Migration hat vorgehen können."

    Waren nun die Erlasse oder deren falsche Auslegungen Ursache für die laxe Visa-Praxis? Auswärtiges Amt und Botschaften widersprechen sich. Fest steht: Im Verlauf des Jahres 2001 wird die Erlasslage durch das Auswärtige Amt schrittweise wieder verändert, die Probleme verringern sich. Ende März 2003 beendet das Auswärtige Amt die Praxis der Reiseschutzversicherungen.

    Die Fronten im Untersuchungsausschuss aber bleiben: SPD und Grüne sagen, die grundsätzlichen Probleme der Visa-Vergabe seien älter als die rot-grüne Regierung, fehlerhafte Erlasse seien zwar 1999 gemacht worden, der Volmer-Erlass jedoch habe die Lage nicht erschwert. Zudem seien die Probleme bei der Visa-Vergabe ab 2001 abgestellt worden. CDU und FDP halten dagegen: Die rot-grüne Visa-Politik sei ideologisch und breche mit früheren Traditionen, der Volmer-Erlass habe zu breitem Visa-Missbrauch geführt, die Probleme hätten über 2001 hinaus fortbestanden.

    Die Berichterstattung zur Visa-Affäre eröffnet für den von erheblichem Autoritätsverlust gebeutelten Fischer eine zweite, ebenfalls abträgliche Front - im eigenen Hause wohlgemerkt. Geht es doch wieder einmal um die Vergangenheit des Auswärtigen Dienstes. Efraim Zuroff, Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums:

    "This is in a sence a revolt …(Das ist im Grunde genommen eine Revolte innerhalb der Regierung. Ein Ministerium, das gegen die Ziele der Regierung arbeitet – Das ist absolut ungeheuerlich. Und je schneller wir die ganze Wahrheit erfahren, desto besser wird es für uns alle sein.) …all be."

    Die Probleme liegen auf der Hand, waren doch beim Wiederaufbau des Amtes zu Zeiten Adenauers rund zwei Drittel der leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder. Der Pragmatiker Adenauer hatte dies weiland begründet mit der nüchternen Feststellung, man schütte eben kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines habe. Zu den Folgen der Historiker Bernhard Brunner:

    "Die Bilanz der Strafverfolgung ist eine Katastrophe oder ein Skandal. Das war nur möglich, weil das Auswärtige Amt – genauer, die Zentrale Rechtsschutzstelle - in den 50er und 60er Jahren auf eine sehr effektive Weise die Strafverfolgung hintertrieben hat."

    Und wo heute, 6o Jahre nach Kriegsende, die Spätfolgen der Maxime Adenauers den angeschlagenen Joschka Fischer ereilen. Der nämlich sah sich genötigt, die Nachruf-Praxis im hausinternen Mitarbeiterblatt zu ändern, nachdem dort in gehabter de-mortuis-nihil-nisi-bene-Manier eines verstorbenen Generalkonsuls a. D. gedacht und dezent registriert worden war, der Verstorbene sei einige Jahre "interniert" gewesen. Tatsächlich aber war der NS-Diplomat als Kriegsverbrecher in der Tschechoslowakei zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, ausgeliefert, dann vorzeitig entlassen und wieder in den deutschen Auswärtigen Dienst eingestellt worden.

    Fischer änderte die Gedenkpraxis, und das Amt, allen voran etliche Diplomaten im Ruhestand, revoltierte in dieser Angelegenheit. Dies exakt zu dem Zeitpunkt, als der Außenminister in Sachen Visa unter Beschuss geraten war. Derweil hatte Fischer dem FDP-Fraktionsvorsitzenden und potentiellen AA-Schattenminister Gerhardt zugeschrieben, der habe die Beamten aufgefordert, ihrem Unmut Luft zu machen. Genau dies tat Frank Elbe, einst Büroleiter Genschers, deutscher Botschafter in der Schweiz, der seinem obersten Dienstherrn Fischer in einem Brief ‚miserables Krisenmanagement’ attestiert hatte, öffentlich geradezu, war doch die Berner Depesche auch der Bild-Zeitung zugegangen.
    Die dienstrechtliche Folge war absehbar. Außenamtssprecher Plötner:

    "Herr Frank Elbe wurde auf Ersuchen des Bundesaußenministers mit sofortiger Wirkung in den einstweiligen Ruhestand versetzt, gemäß Paragraph 36 des Bundesbeamtengesetzes. "

    Die Begeisterung über Briefschreiber Elbe hält sich in Diplomatenkreisen in Grenzen. Ernst-Jörg von Studnitz, einst Botschafter in Moskau:

    "Es ist eine Frage, ob man sich als aktiver Beamter zu einer Sache äußert oder ob man das macht, wenn man keine Verantwortung mehr trägt. Ich hätte so etwas als aktiver Beamter nie getan."

    Auch den Vorwurf aus mehr oder minder anonymen Diplomatenquellen, Fischer habe das Amt nicht im Griff, lässt Studnitz nicht gelten:

    "Dieses Urteil würde ich mir nicht anmaßen. Ich würde eher meinen, dass das Auswärtige Amt doch über diesen Corps-Geist , der ja heute gelegentlich bestritten wird, das er noch bestehe, verfügt, und der dazu führt, dass eben Dinge, die dann vielleicht auch mal falsch laufen, dass die dann am Ende doch wieder in den Griff bekommen werden."

    Was die Bewältigung der NS-Vergangenheit angeht, müht sich Fischer auch an dieser Front, 60 Jahre nach Kriegsende, die Gedenkpraxis als Vehikel nutzend, endlich in die Offensive zu gelangen. Außenamtssprecher Lindner:

    "Das war die Grundlage dessen, warum der Minister sich entschieden hatte, hier über eine Einsetzung einer unabhängigen Historiker-Kommission nachzudenken. Und wie der Auftrag jetzt sein soll, welchen Umfang der haben soll, welche Sachkompetenzen dort vertreten sein sollen, wie der Auftrag sein soll, das muss man jetzt alles sehen, wie gesagt, dazu bedarf es einer Reihe von Gesprächen."

    Auch im Visa-Ausschuss versucht das Regierungslager, in die Offensive zu kommen. Inhaltlich – und publizistisch. Zeugeneinvernahme Volmer, Ex-Staatssekretär Pleuger, das Fernsehen live dabei, und keine Punkte für die Opposition. SPD-Obmann Scholz:

    "Keiner dieser Zeugen hat all die Aufregung gerechtfertigt, die die Union vorher gemacht hat."

    Die rot-grünen Wahlkämpfer aber sehnen sich nach dem Befreiungsschlag. Und es ist angerichtet, die Inszenierung steht – Premiere, zweiter Akt, live aus dem Untersuchungsausschuss. Am Montag große PR-Schlacht, der Showdown, alles wartet auf Fischer, den Medien-Zampano. Die Frage bleibt: Wann hat er was gewusst? Entsprechend die Zwischenbilanz der Opposition:

    "Die Führung des Auswärtigen Amtes (ist) ideologisch verbohrt, ignorant, unglaubwürdig, und inkompetent."

    An einen Fischer-Rücktritt glaubt die Opposition indes nicht. Die Folgen der Visa-Affäre aber sind deutlich, schon jetzt. Fischer, der Überflieger a. D., ist auf Berliner Normalmaß gestutzt. Das wird Konsequenzen haben für den Außenminister und die Seinen – innenpolitische Konsequenzen. Das wissen alle Beteiligten.