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Flannery O'Conner: "Keiner Menschenseele kann man noch trauen"
Die bösen Geister des US-amerikanischen Südens

Flannery O'Connor, die 1964 mit Ende 30 starb, gilt in den USA als eine der größten Autorentalente. In ihren meist grausamen Geschichten gelingt es ihr, die Abgründe der menschlichen Seele zu beleuchten. Die Faszination an "Keiner Menschenseele kann man noch trauen" stellt sich aber erst nach und nach ein.

Von Martin Peter Becker | 09.07.2018
    Buchcover Flannery O'Connor: "Keiner Menschenseele kann man noch trauen."
    Flannery O'Connor blickt in ihren Geschichten hinter die Fassade der bürgerlichen Existenz (Arche Verlag / imago)
    "Alles wird schlimmer. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, da konnte man aus dem Haus gehen, ohne die Fliegentür zu verriegeln. Aber das ist vorbei."
    Hat man die ersten Erzählungen von Flannery O‘Connor gelesen, so kann man der Autorin nur beipflichten: Es geht alles vor die Hunde. Die Menschheit ist böse. Rettung: nicht in Sicht. Es ist eine harte und gnadenlose Welt, mit der die 1925 geborene US-amerikanische Schriftstellerin uns konfrontiert. Ein betulicher Familienausflug beispielsweise endet mit Unfall, Mord und Totschlag. Überhaupt, es wird reichlich gestorben in diesen Geschichten. Sie spielen in den amerikanischen Südstaaten, irgendwann in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Oft sind die Protagonistinnen verwitwete Frauen, die ein trauriges Dasein auf viel zu großen Farmen fristen und sich an ihre Hausangestellten klammern. Ebenso oft dreschen sie immer gleiche Phrasen, damit der verdammt lange Tag vielleicht doch noch vergeht:
    "Nichts ist vollkommen. Das war einer von Mrs. Hopewells Lieblingssprüchen. Ein anderer lautete: So ist nun mal das Leben! Und ein dritter, der wichtigste, hieß: Na ja, andere Leute haben auch eine eigene Meinung."
    Absurde Momente, die das Lesen besonders machen
    Zuerst ist man vor allem schockiert: So viel Gewalt, so viel Gleichgültigkeit, so wenig zwischenmenschliche Zuneigung – allein das Misstrauen ist eine Konstante, die sich durch die Texte zieht. Die Faszination an "Keiner Menschenseele kann man noch trauen" stellt sich erst nach und nach ein. Denn Flannery O‘Connor bespielt die Klaviatur des Komischen und Grotesken mitunter zwar leise und subtil, aber dennoch: Die vielen absurden Momente sind es, die das Lesen so besonders machen. Da gibt es zum Beispiel die Geschichte von Mrs. Hopewell und ihrer Tochter, "Anständige Leute vom Land" heißt sie. Die Tochter ist über 30, hat einen Doktortitel in Philosophie, ein Holzbein und einen Hang zum Zynismus. Keine Gelegenheit lässt sie aus, um gegen die überbesorgte Mutter zu rebellieren. So hat sie ihren Vornamen schon vor Jahren freiwillig geändert: Von "Joy" in "Hulga" nämlich, der absichtsvoll hässlichste Name, den die Tochter finden konnte.
    "Man konnte sagen: 'Meine Tochter ist Krankenschwester', 'Meine Tochter ist Lehrerin' oder sogar "Meine Tochter ist Chemikerin". Aber man konnte nicht sagen: 'Meine Tochter ist Philosophin.' Das hatte mit den Griechen und Römern aufgehört. Den ganzen Tag saß Joy in einem tiefen Sessel und las. Manchmal ging sie spazieren, aber sie mochte keine Hunde, keine Katzen, Vögel oder Blumen und auch nicht die Natur oder nette junge Männer. Nette junge Männer sah sie an, als könnte sie ihre Dummheit riechen."
    Man hofft vergebens auf ein Happy End
    Natürlich darf, wir sind schließlich in den Südstaaten der USA, ein engelsgleicher und naiver Bibelverkäufer nicht fehlen, der von Tür zu Tür zieht und sich ganz zum Schluss als bösartiger Teufel erweist. Man sollte bei diesen Geschichten niemals auf ein Happy End hoffen. Doch aller Trostlosigkeit zum Trotz: Irgendwann gibt man sich gern diesen verschrobenen Apokalypsen hin. Durch Flannery O‘Connors haltlos verlorene Welten hinken und kriechen gequälte Kreaturen Beckett‘schen Ausmaßes – erzählt ist das Ganze dabei so kompakt und souverän wie in der Kurzprosa eines Raymond Carver. Wenn die Menschen als Spezies auch oftmals schlecht wegkommen: Für Tiere hat die Erzählerin immer etwas übrig. So stolziert wieder und wieder ein Pfau durch einen Text, in den sich ein katholischer Priester Hals über Kopf verliebt. Überhaupt, die Naturbeschreibungen sind eine große Stärke von Flannery O‘Connor. Man spürt, dass die Autorin das Ländliche gut kannte – sie selbst lebte schließlich fast anderthalb Jahrzehnte auf der Farm ihrer Vorfahren, zusammen mit zahllosen Hühnern, Enten, Gänsen und Pfauen.
    "Dichter Reif bedeckte den Boden, sodass die Felder aussahen wie die Rücken ungeschorener Schafe; die Sonne war beinahe silbern, und die Bäume standen wie trockene Stoppeln vor dem Horizont. Es war, als ob sich die ganze Umgebung gleichsam von dem kleinen Mittelpunkt des Lärms um den Schuppen zurückzöge."
    Flannery O'Connor, die mit Ende 30 an einer Autoimmunerkrankung starb, ist in den USA längst ein Klassiker. Kein Wunder, denn ihre grausamen Geschichten sind Lehrstücke über die Nachtseite unserer Existenz. Fast schon unheimlich ist dabei, wie aktuell "Keiner Menschenseele kann man noch trauen" ist: Ob die irrationale Sorge um den eigenen Wohlstand oder die Angst vor Fremden: Was die Südstaatler bei Flannery O‘Connor umtreibt, beschäftigt auch uns – zwangsläufig denkt man an den grassierenden Rechtspopulismus in den USA oder in Europa.
    "Sie begann sich einen Krieg der Wörter vorzustellen, sah, wie die polnischen und die englischen Wörter aufeinander losgingen, sich anpirschten, keine ganzen Sätze, bloß Wörter, Rhabarber Rhabarber Rhabarber, laut und schrill gingen sie aufeinander los und rauften dann miteinander. Sie sah, wie die polnischen Wörter, schmutzig, allwissend und unreformiert, Dreckklumpen auf die sauberen englischen Wörter warfen, bis alles gleichermaßen schmutzig war."
    Geschichten von großer Dringlichkeit
    Diese Geschichte der Autorin hat den schlichten Titel "Der Flüchtling". Sie erzählt von einer polnischen Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA flieht und sich auf einer Farm verdingt – was sie verdächtig macht: dass der Familienvater so fleißig ist. Und natürlich, dass sie ohnehin nur noch mehr Flüchtlinge nach sich ziehen werden.
    Flannery O'Connors Geschichten sind von großer Dringlichkeit, zeitgenössisch und modern, trotz des archaischen Rahmens der provinziellen Nachkriegs-Südstaaten. Das allgemeine Unbehagen ist es, die gefühlte Bedrohung, von der die Texte erzählen. In einer Geschichte will eine Frau seit der Aufhebung der Rassentrennung nicht mehr mit dem Bus fahren. Ihr Sohn begleitet sie also auf jeder einzelnen Fahrt – und ist dabei dem ständigen Lamento der Mutter ausgesetzt, deren einzige Sorge ihr neuer Hut zu sein scheint.
    "'Warte', sagte sie. 'Ich geh noch mal ins Haus und setz das Ding ab und geb es morgen zurück. Ich hab ja wohl den Verstand verloren. Mit sieben Dollar fünfzig kann ich die Gasrechnung bezahlen.' Er packte sie heftig am Arm. 'Du gibst ihn nicht zurück', sagte er. 'Mir gefällt er.' 'Nun ja', sagte sie, 'ich glaube nicht, dass ich –' 'Halt den Mund und freu dich dran', murmelte er, bedrückter denn je. 'Wo die Welt kopfsteht, ist es ein Wunder, dass wir uns an irgendwas freuen können', erwiderte sie. "Ich sag dir, es geht alles drunter und drüber.'"
    Ein unvergessliches Erlebnis
    'Sie war anders, sie war seltsam', so schreibt es Willi Winkler in seinem Nachwort über die Autorin. Das gilt auch für ihre Erzählungen: So detailliert beschreiben sie die menschliche Absurdität und Brutalität, dass es einfach komisch wird – deshalb spielt Flannery O‘Connor tatsächlich in einer Liga mit Samuel Beckett. Hat man sich erst an die allgegenwärtige Düsternis gewöhnt, dann ist O‘Connors Literatur ein unvergessliches Erlebnis. Dann erwischt man sich dabei, wie man dauernd anderen Leuten von diesen unerhörten Geschichten erzählt. Ein wenig verstört, vor allem aber schwer beeindruckt.
    Flannery O'Connor: "Keiner Menschenseele kann man noch trauen". Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Leube und Dietrich Leube. Arche Verlag, 352 Seiten, 22,00 Euro.