Donnerstag, 28. März 2024

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Flaue Witze abgewrackt

Rüdiger Safranski erzählt in "Goethe und Schiller" weit mehr als die Geschichte der berühmtesten Männerfreundschaft der deutschen Literatur, Hans-Olaf Henkel berichtet von seinem Erstkontakt zu den Beatles und Bischöfin Margot Käßmann predigt: über Liebe, Schönheit und Brustkrebs. Die Sachbuch-Bestseller des "Spiegel":

Redakteur am Mikrofon: Dennis Scheck | 29.12.2009
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?"

    Mag's an den stillen Tagen zwischen den Jahren liegen oder am Winterschlaf des Feuilletons liegen: dieses Gehirn fragt sich jedenfalls, ob in diesen Zeiten wirklich keine relevanteren Sachbücher in Hände und Hirne der Deutschen gehörten.

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch:

    heute ausschließlich mit den wahren Titanen des deutschen Geisteslebens: Goethe und Schiller, Peter Scholl-Latour und Frank Schirrmacher, Richard David Precht und Olaf Henkel und Eckhart von Hirschhausen, protestantischen Weihnachtsgänsen und amerikanischen Sonntagsschülern sowie Gedanken über das Glück und den Wahnsinn, Normalität und Identität.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen drei Kilo und 553 Gramm auf die Waage: zusammen 3125 Seiten.

    Platz zehn: Rüdiger Safranski: Goethe und Schiller (Hanser Verlag, 352 Seiten, 21.50 Euro)

    Ein schönes, ein gedankenreiches Buch, das weit mehr als die Geschichte der berühmtesten Männerfreundschaft der deutschen Literatur erzählt: Rüdiger Safranski macht aus toten Gipsheiligen lebendige Menschen und verrät ganz nebenbei, wie konkurrierende erwachsene Männer es schaffen können, das große gelbe Monster Neid zu besiegen.

    Platz neun: Helmut Schmidt und Giovanni di Lorenzo: "Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt" (Kiepenheuer & Witsch, 291 Seiten, 16.95 Euro).

    Faszinierend an diesen geschliffenen, wunderbar leichtfüßig daherkommenden kurzen Gesprächen sind weniger die Ansichten des Altkanzlers zu Ausländern, Kernkraft oder zum deutschen Parteiensystem, als die Frage, warum ein deutscher Mann, der in drei Tagen seinen 91. Geburtstag feiern wird, von sich behaupten kann: "Ich habe keine Angst."

    Platz acht: Jay Dobyns und Nils Johnson-Shelton: "Falscher Engel" (Deutsch von Martin Rometsch, Riva Verlag, 380 Seiten, 19,90 Euro)

    Ein amerikanischer Polizist ermittelt zwei Jahre undercover bei den Hells Angels in Arizona und findet nach gefühlten 1000 Seiten heraus, dass diese hammerharten Jungs statt Omas über die Straße zu helfen doch tatsächlich rauchen, trinken und auch schon mal bei Rot über die Ampel fahren. Am Ende findet der Autor zu Gott - was mich als Leser eher an ihm zweifeln lässt.

    Platz sieben: Richard David Precht: "Wer bin ich und wenn ja wie viele" (Goldmann Verlag, 398 Seiten, 14,95 Euro)

    Nach der Lektüre dieser kompetenten Einführung in einige zentrale Fragen von Hirnforschung und Philosophie weiß man nicht nur etwas mit Plato, Kant und Schopenhauer anzufangen, sondern auch mit Peter Singer, John Rawls und Eric Kandel. Mehr kann man von einem populären Sachbuch nicht verlangen.

    Platz sechs: Hans-Olaf Henkel: "Die Abwracker" (Heyne Verlag, 256 Seiten, 19,95 Euro)

    Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel weiß, warum er so oft in Talkshows eingeladen wird:

    "Keiner will sich zugunsten der Globalisierung oder der Marktwirtschaft exponieren, vermutlich aus Furcht, das Etikett 'neoliberale Hyäne' angeheftet zu bekommen."

    Drei Naturgesetze gelten in der Welt des furchtlosen Hans-Olaf Henkels: Henkel hat Recht. Henkel weiß es besser. Und: Henkel wusste es schon immer. Gleich, ob es um die subprime-Krise, "kommunistische Sektierergruppen" oder Arcandor-Abwracker wie Thomas Middelhoff geht, ja selbst die Beatles wären ohne ihn nicht vorstellbar:

    "Als ich die Beatles zum ersten Mal im Hamburger Top Ten Club sah, waren sie eine gewöhnliche, Lederklamotten tragende Unterhaltungscombo."

    Ein wundersamer Mischmasch: als Autobiografie zu eitel, als Wirtschaftsbuch zu flach.

    Platz fünf: Frank Schirrmacher: "Payback" (Blessing Verlag, 240 Seiten, 17.95 Euro)

    Lesen oder gelesen werden: vor diese Alternative stellt uns Frank Schirrmacher in seinem anregungsreichen, wenn auch etwas fahrig konstruierten Essay über die von ihm konstatierte, durch Informationsüberflutung ausgelöste "Ich-Erschöpfung" und die Gefahr einer totalen Vorhersagbarkeit unseres Verhaltens dank immer feinerer Algorithmen. Ein gutes Buch, das einen auf neue Gedanken bringt.

    Platz vier: Peter Scholl-Latour: "Die Angst des weißen Mannes" (Propyläen Verlag, 458 Seiten, 24,90 Euro)

    Unter den großen Ego-Monstern des deutschen Journalismus ist Peter Scholl-Latour das schillerndste – aber eben auch das klügste: wer außer dem listenreichen Scholl-Latour käme in Zeiten der politischen Korrektheit schon auf die Idee, seine aufgehübschten Postkarten aus mehr oder minder beliebigen Destinationen wie Neuseeland, den Philippinen oder Indonesien unter dem Signet "Die Angst des weißen Mannes" zu vermarkten? Weil aber 'Frechheit siegt!' nicht nur im Leben, sondern auch im Sachbuch ein guter Rat ist, deshalb erringt Scholl-Latour mit diesem Buch wieder mal einen Pflichtsieg.

    Platz drei: Margot Käßmann: "In der Mitte des Lebens" (Herder Verlag, 159 Seiten, 16,95 Euro)

    Eine evangelische Bischöfin predigt: über Liebe und Leid, Schönheit und Vergänglichkeit, Arbeit und Erfolg. Ich glaube durchaus, dass dieses Buch vielen Menschen helfen kann. Aber nach 159 sprunghaften Seiten über "Geben-Können" und "Gebraucht-Werden", über Brustkrebs und deutsche Rüstungsexporte, über die Schönheit von Mädchen mit Down-Syndrom und von der Abschiebung bedrohte iranische Christinnen fühle ich mich als Leser wie nach dem Verzehr einer zu fetten protestantisch gefüllten Weihnachtsgans.

    Patz zwei: Manfred Lütz: "Irre" (Gütersloher Verlagshaus, 208 Seiten, 17,95 Euro)

    Der Psychiater Manfred Lütz denkt in seiner Kampfschrift gegen den Terror der Norm über krank und gesund nach und feiert all die Schrulligen, Käuze und Originale, die etwas dringend benötigte Farbe ins Grau der Mittelmäßigkeit bringen. Ergebnis: ein lesenswertes Buch über den Wahnsinn unserer Normalität.

    Platz eins der Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch: Eckhart von Hirschhausen: "Glück kommt selten allein" (Rowohlt Verlag, 383 Seiten, 18.90 Euro)

    Was mit dem Titel dieser in einem Trommelfeuer selten flotter, häufig flauer Witze verfassten Anleitung zum Glücklichsein wirklich gemeint ist, dämmert einem erst, wenn man die "Glück-kommt-selten-allein"-Box öffnet, die "Glück-kommt-selten-allein-Tasse" herausnimmt, sich einen "Glück-kommt-selten-allein-Tee" aufbrüht, dazu die "Glück-kommt-selten-allein-CD" einlegt und das "Glück-kommt-selten-allein-Tagebuch" aufschlägt . Mein Rat: Simplify your life!