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Flausen im Hirn

Sobald die Pubertät beginnt, gibt der gerade noch liebenswerte Nachwuchs Rätsel auf. Er provoziert und lamentiert, geht unsinnige Risiken ein oder verstößt gegen alle Regeln. Verzweifelten Eltern bieten die Hirnforscher seit neuestem eine Erklärung dafür an: Im Lauf der Pubertät baut sich das Gehirn gewaltig um und verändert seinen inneren Takt.

Von Martin Hubert | 16.01.2011
    Hypothalamus zeugt Neurokinin B, Neurokinin B pusht das Gonadotropin-Releasing-Hormon. Chemie mit radikalen Folgen: Signalwellen durchfluten den Körper. Hoden und Eierstöcke schütten Testosteron und Östrogen aus. Die Sexualhormone tun ihren Job: Der kindliche Körper schießt in die Höhe, Schultern verbreitern sich, Brüste wachsen. Der Blick wird keck, der Geist provokativ.

    "Pubertät ist das, was Du mit mir durchmachst."

    Und ironisch.

    "Das heißt Du wirst kompliziert und ich werde erwachsen."

    Und das Gehirn?

    "Das ist etwas, was wir sicherlich aufgrund der Befunde, die in der Hirnforschung in den letzten Jahren erhoben werden konnten, bestätigen können: dass in der Tat das adoleszente Gehirn in gewisser Weise anders funktioniert als das eines Erwachsenen."

    "Ja."

    Lange Zeit galt das Gehirn in der Kindes- und Jugendzeit als relativ statisches, unveränderliches Gebilde. Spätestens seit der Jahrtausendwende aber hat sich dieses Bild gewandelt. Ab dem sechsten bis achten Lebensjahr, sagen die Neurowissenschaftler, beginnt sich das Gehirn zu verändern – bis in die späte Pubertät hinein. Ist das endlich die naturwissenschaftliche Erklärung für jenes Phänomen, das liebende Eltern seit Generationen zum Wahnsinn treibt?

    "Pubertät ist, wenn ich mich mit meiner Mutter anschreie."

    Hannah, 16 Jahre alt, definitionsgemäß in der Spätpubertät.

    "Tagtäglich oder über einen längeren Zeitraum immer wieder."

    Kann der Umbau des Gehirns wirklich vollständig erklären, was im Kopf eines Pubertierenden vor sich geht und warum er so und nicht anders handelt? Oder gibt er nur grobe Hinweise auf ein wesentlich komplizierteres Geschehen? Je genauer die Forscher ins pubertierende Gehirn blicken, desto stärker sehen sie sich mit dieser Frage konfrontiert.

    "Damit kann man in der Tat vielleicht auch sagen, dass Adoleszente nicht immer genau wissen, was sie tun."

    Peter Uhlhaas vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung glaubt, dass der Blick ins pubertierende Gehirn vieles erklären kann. Denn es sei einfach gewaltig, was in dieser Phase unter der Schädeldecke alles passiere. Die grundlegenden Daten über diesen Umbau stammen aus dem National Institute for Mental Health in Bethesda, USA. Seit den 90er Jahren legt der Psychologe Jay Giedd in Bethesda Pubertierende in den Hirnscanner und untersucht, wie sich ihr Gehirn von dem der Erwachsenen unterscheidet. Seine Analyse von inzwischen mehreren Tausend Daten zeigt: Mit Beginn der Pubertät baut das Gehirn zuerst zusätzliche graue Masse auf. Das heißt, dass massenhaft neue Nervenzellen und Nervenzellausläufer entstehen, die Informationen von andern Nervenzellen aufnehmen. Im Verlauf der Pubertät nimmt diese graue Nervenmasse jedoch wieder ab: Nervenzellen verschwinden und in einer Sekunde können bis zu 30.000 Nervenverbindungen zugrunde gehen. Die Forscher sprechen von "pruning", vom "Zurechtstutzen" des Hirngewebes.

    Giedds weithin akzeptierte Erklärung des Vorgangs lautet: das Gehirn produziert einen Überschuss an Nervenverbindungen, mit denen die Pubertierenden neu an die Welt herangehen können. Sie können neue Erfahrungen mit sich selbst und ihrer Umwelt machen und sie in neuen Nervenverbindungen in ihrem Gehirn verankern. Alle überschüssige Nervenmasse jedoch, die nicht durch Erfahrungen beansprucht wird, geht wieder verloren. Das Gehirn scheint damit überhaupt erst die Voraussetzung für das zu schaffen, was Psychologen als Hauptzweck der Pubertät definieren: Löse Dich von der Welt Deiner Eltern und schaffe Dir einen eigenen Kosmos.

    "Also ich finde ich bin alt genug","

    Nico, 17 Jahre,

    ""dass ich nicht mehr im Haushalt arbeiten müsste, also absolut, gar nicht mehr - auch nicht - so etwas wie Müll runterbringen. Ich meine, ich bin alt genug, ich hab das gelernt, jetzt kann ich ausziehen und jetzt muss ich das nie wieder machen, bis ich ausgezogen bin. Ich finde, so langsam könnten das meine Eltern wieder übernehmen."

    Hannah:

    "Sie soll mich einfach so behandeln, wie man einen normaler Mensch behandelt, der logisch mit einem redet."

    So verquer, abstrus und verrückt die Wege oft auch sein mögen: der Pubertierende sucht nach Autonomie, er möchte eine eigene Identität entwickeln und seine geistigen Fähigkeiten anerkannt wissen. Das wirft die bange Frage auf: Kann das vielleicht nur funktionieren, indem der Geist zumindest teilweise verquer, abstrus und verrückt wird? Der Psychologe Peter Uhlhaas vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung ist dieser Frage mit Hilfe der so genannten Elektroenzephalographie nachgegangen, dem EEG. Das EEG misst die elektrischen Ausschläge, die im Gehirn entstehen, wenn Signale zwischen Nervenzellen ausgetauscht werden. Die Forscher sprechen auch von Oszillationen, von Schwingungen im Gehirn. Elektroden auf der Kopfhaut messen die Ausschläge dieser Oszillationen und machen sie in Form von Kurven und Wellen auf einem Monitor sichtbar. Wenn viele Nervenzellen im Gehirn zusammenarbeiten, synchronisieren sie ihre Tätigkeit, das heißt sie geben ihre Signale in gleichem Takt ab. Dadurch addieren sich die vom EEG gemessenen Signale und die Amplitude, also der Ausschlag der Schwingungskurve auf dem Monitor erhöht sich. Die Größe der Amplitude zeigt daher an, inwieweit Nervenzellen im Gehirn koordiniert und synchron zusammenarbeiten. Peter Uhlhaas wollte wissen, wie sich diese synchrone Tätigkeit von Nervenzellen in der Großhirnrinde während der Pubertät entwickelt Dazu klebte er Versuchspersonen zwischen 6 und 21 Jahren Elektroden auf den Kopf und zeigte ihnen so genannte Mooney faces.

    "Also Mooney faces, das sind Fotografien menschlicher Gesichter, wo alle Graustufen entfernt sind und dann sieht man quasi so umrisshaft, so schattenartig ein menschliches Gesicht. Und die Gesichter werden dann für 200 Millisekunden den Probanden gezeigt, einmal nur in einer aufrechten Darbietung und einmal, wenn diese Gesichter auf den Kopf gestellt werden und die Probanden mussten dann per Knopfdruck angeben, ob ein Gesicht erkannt wurde oder nicht."

    Wenn Erwachsene solche schattenhaften Mooney-Gebilde als ein Gesicht wahrnehmen, dann steigt die Amplitude in ihrem EEG. Bestimmte Netzwerke ihrer Nervenzellen sind also verstärkt synchron aktiv, wenn sie eine sinnvolle ganzheitliche Gestalt erkennen. Bei den 15- bis 17-Jährigen aber, die noch mitten in der Pubertät stehen, war das in wesentlichen Schwingungsbereichen viel weniger der Fall. Uhlhaas:

    "Es scheint, als ob es eine Destabilisierung der Netzwerke in der späten Adoleszenz gibt. Das heißt wir konnten nachweisen, dass es zu einer Reduktion der Synchronisation im Übergang von der späten Adoleszenz, das heißt 15 bis 17 Jahren, bis ins frühe Erwachsenenalter dann kam."

    Beim Versuch, schattenhafte Gebilde als zusammenhängende Gesichter zu erkennen, können die 15- bis 17-jährigen weniger auf bereits koordinierte Hirnprozesse zurückgreifen. Peter Uhlhaas glaubt, dass man diesen Befund verallgemeinern kann, auch wenn der Beleg dafür noch aussteht. Zwischen 15 und 17 Jahren werden seiner Überzeugung nach nicht nur neue Nervenzellen und Verbindungen im Gehirn auf- und abgebaut. Es geht vorübergehend auch der innere Zusammenhalt eingespielter Nervennetzwerke in der Großhirnrinde verloren. Hannah:

    "Man ist nur ein bisschen entscheidungsgehemmt und triebgesteuert. Also manche Entscheidungen sind falsch und manche Entscheidungen, da kann man einfach keine Entscheidungen treffen, da trifft man eine Entscheidung für sich und dann heult man und dann trifft man die Entscheidung doch nicht und ist hin- und hergerissen und alles ist falsch und alles um einen herum ist schlecht und man selbst ist schlecht und eigentlich sollte die Welt untergehen."

    Pubertierende fühlen sich oft wie zerrissen: zerrissen zwischen dieser oder jener Möglichkeit, zu handeln; zerrissen zwischen Können und Wollen, zwischen Gefühl und Verstand. Als Folge davon kommt ihnen oft die ganze Welt feindlich vor, als unzugänglich, abweisend, ja zerstörerisch. Daher scheint es mehr als nur Zufall zu sein, dass in in der Pubertät gehäuft Depressionen und Angsterkrankungen auftreten - und die Schizophrenie. Bei Schizophrenen verliert der Geist seinen Halt und verliert sich in Halluzinationen, fremden Stimmen oder Denkstörungen. Es liegt nahe, dafür die instabil werdenden Hirnnetzwerke während der Pubertät mitverantwortlich zu machen. Nico:

    "Also ich hab eine Zeit lang viel gezockt, und dann habe ich da auch wirklich alles parallel gemacht: MSN, Skype, SMS, dann mein Spiel dazu, noch dazu telefoniert, meistens saß noch ein Kumpel neben mir, der die ganze Zeit geredet hat: Lass mich mal zocken, lass mich mal zocken!"

    Verschiedene Hirnareale reifen während der Pubertät erst nacheinander aus. Zuerst sind die Areale für Wahrnehmung und Bewegungsteuerung intakt. Daher können die Kids schon früh genau beobachten, vieles fast gleichzeitig tun und gewagte Fahrrad- oder Inlinertricks vorführen. Oder sie werden zum PC-Game-Experten. Nico:

    "Hieß halt Dofus das Spiel. Ist gar nicht so populär, aber ich würde sagen, das hat sicher mit das höchste Suchtpotenzial."

    Auch das Dopaminsystem im Gehirn reift erst während der Pubertät allmählich aus. Dopamin ist der Stoff, der neugierig macht, einen antreibt, etwas zu tun und emotional dafür belohnt. Der Stirnlappen schließlich ist das Areal, das in der Pubertät zu allerletzt ausreift Er kommt meist so richtig erst nach dem zwanzigsten Lebensjahr in einen stabilen Zustand. Das Stirnhirn aber ist für rationales und vernünftiges Denken zuständig: Er hilft, die Konsequenzen des eigenen Tuns zu überdenken, rationale Urteile zu fassen und spontane Impulse zu kontrollieren. Ein Helfer, der manchmal zu spät kommt. Nico:

    "Ich habe für meine zentrale Abschlussprüfung lernen sollen - ich hoffe, meine Mutter hört das jetzt nicht – ich habe quasi nichts dafür getan, sondern nur gezockt. Dann irgendwann habe ich mein ganzes Umfeld quasi vernachlässigt bis verloren, ich habe nur noch mit ganz wenigen Leuten Kontakt gehabt und dann nur noch so spärlich, außer mit meinem besten Freund, der das auch gespielt hat. Seine Eltern waren eine Woche weg, ich habe meinen PC zu ihm rübergeschleppt, und wir saßen nebeneinander, haben uns mehrere Stunden nicht mehr angeguckt, sondern nur nebeneinander gesessen und gespielt und dann sogar miteinander geschrieben im Spiel, also wir haben nicht mal geredet, sondern: 'Hey, magst du Pizza?'- 'Okay!'"


    Es kann eine ganze Clique sein, aber auch nur ein Einzelner. Die peers oder die Freunde werden in der Pubertät bekanntlich immer wichtiger. Sie ersetzen die Eltern zunehmend als Gesprächspartner, Impulsgeber und Orientierungshilfe. Nicht nur Nicos PC-Spielsucht zeigt, dass der Einfluss der peers keineswegs immer positiv ist. Der Psychologe Laurence Steinberg von der amerikanischen Temple-University wies nach: wenn Jugendliche mit ihren peers zusammen sind, gehen sie größere Risiken ein. Sie begehen häufiger Straftaten oder machen andere unsinnige Dinge. Ihr Belohnungssystem im Gehirn verschafft ihnen nämlich viel rascher Glücksgefühle, wenn sie die peers um sich haben.Der Verstand kommt dann oft zu spät-

    In den USA darf daher ein junger Mensch, der frisch den Führerschein gemacht hat, eine Zeit lang nicht gemeinsam mit Jugendlichen Auto fahren. Aus all dem folgt, dass es sinnvoll ist, wenn Pubertierende lernen, sich den spontanen Einflüssen ihrer peers zu widersetzen. Tomáš Paus von der McGill Universität in Montreal wollte wissen, worin diese "Peer-Resistenz" neuronal gesehen besteht:

    "Peers sind wichtig und wir wollen verstehen, auf welche Weise sie sich gegenseitig beeinflussen: wie verarbeitet das Gehirn alle die Signale, die von den peers auf den Einzelnen einströmen? Ich interessiere mich dabei besonders für die nichtsprachliche Kommunikation unter den peers: welche Körpersignale, welche Gesichtsbewegungen und so weiter beeinflussen das Verhalten?"

    Tomáš Paus Team zeigte zehnjährigen Frühpubertierenden daher Videoclips. Darauf sahen sie zum Beispiel wie eine Hand sehr ruckartig und zornig ein Handy bediente oder mit einem Werkzeug hantierte. In andere Clips ging die Hand sachlich und neutral mit den Dingen um. Dabei lagen die Frühpubertären in einem Kernspintomographen. Der zeigte, den Forschern, was im Gehirn passierte, wenn sie die "zornigen" und wenn sie die "neutralen Hände sahen. Das überraschende Ergebnis. Schon wenn die Jugendlichen nicht den ganzen Körper oder das Gesicht, sondern nur eine "zornige" Bewegung von Händen oder Armen sahen, reagierte ihr Gehirn unterschiedlich. Paus:

    "Bei Jugendlichen, die sehr gut in der Lage waren, sich dem Einfluss ihrer peers zu widersetzen, waren bestimmte Hirnareale viel stärker miteinander koordiniert. Nämlich auf der einen Seite Areale, die äußere Reize und Signale bewerten und ihre soziale Bedeutung entschlüsseln - und auf der anderen Seite Areale, die wichtig für die Entscheidung sind, ob man etwas tut oder nicht. Das war aber nicht der Fall bei den Jugendlichen, die sagten: 'Ich schaffe es nicht so gut, dem Einfluss meiner peers zu widerstehen.' Bei diesen Jugendlichen waren zwar die gleichen Hirnregionen aktiv, aber die Kommunikation zwischen den Arealen war viel geringer. Es scheint so, als ob sie die verschiedenen Aspekte der Information, die im Gehirn vorhanden sind, nicht gut integrieren können."

    Offenbar hängt "Peer-Resistenz" davon ab, wie gut das Gehirn integrativ arbeiten kann, wenn eine emotionsgeladene Handlung beobachtet wird. Die Parallele zu Peter Uhlhaas Forschungen über die mangelnde Synchronizität des pubertierenden Gehirns liegt auf der Hand. Je geringer integriert die Nervenzellen im pubertierenden Gehirn arbeiten, desto ineffektiver arbeiten Geist und Psyche. In weiteren Studien möchte Tomáš Paus herausbekommen, ob Peer-Resistenz eher eine Persönlichkeitseigenschaft ist oder ob und inwieweit sie erlernt werden kann. Ziemlich sicher ist er sich aber heute bereits, dass die Integration bestimmter Hirnareale wichtig ist für pubertäre Autonomie und Identität. Wie aber aber bildet sich diese heraus?

    Nico:

    "Selbstbewusstsein ist in der Pubertät, glaube ich, ein wenig zu viel ausgeprägt."

    Hannah:

    "Ich sag immer, meine Mama ist mir total wichtig, und mit der bespreche ich auch vieles, obwohl sie mich manchmal total nervt und ich auch manche Sachen überhaupt nicht mit ihr besprechen kann, weil sie total peinlich ist, obwohl die Phase eigentlich vorbei ist. Eine Zeit lang habe ich mich geschämt, wenn ich mit ihr durch die Straßen gelaufen bin und sie mich an der Hand genommen hat, jetzt lieb ich das einfach, weil das sehr lustig ist, zusammen einkaufen zu gehen zum Beispiel."

    Pubertierende tun gern so, als hätten sie ein starkes Ich. Aber meist ist es gar nicht so stark, die Jugendlichen brauchen die Eltern oft mehr als sie sich eingestehen wollen. Wie aber entsteht im Verlauf der Pubertät eine Ich-Identität mit deren Hilfe sich die Jugendlichen wirklich ihrer selber bewusst werden, also ein angemessenes Bild von sich entwickeln? Silvia Oddo, die heute an der Psychosomatischen Universitätsklinik in Frankfurt arbeitet, hat dies an der Universität Bielefeld untersucht. Dort ging man fünf Jahre lang interdisziplinär der Frage nach, wie sich persönliche Erinnerungen über verschiedene Lebensphasen hinweg entwickeln. Weibliche Versuchspersonen aus verschiedenen Altersgruppen liegen in der Röhre eines Kernspintomographen. Dann hören sie eine Stimme.

    Manchmal erinnert die Stimme die Versuchspersonen in kurzen Sätzen an emotionale Erlebnisse aus dem persönlichen Leben der Versuchspersonen. An den erste Kuss, eine Krankheit oder einen schönen Urlaub. Manchmal zählt sie nur unpersönliche geschichtliche Ereignisse wie den ersten Mondflug auf. Der Kernspintomograph registriert dabei, welche Hirnregionen aktiv sind, wenn autobiographische Erinnerungen abgerufen werden oder wenn das sogenannte "semantische Gedächtnissystem" aktiviert wird, das sachliches Wissen speichert: wann starb Adenauer? Wie hoch ist die Zugspitze? Silvia Oddo interessierte sich bei dieser Untersuchung vor allem für eine Region in der Mitte des Stirnhirns: den sogenannten medialen präfrontalen Cortex.

    "Also der mediale präfrontale Cortex ist ein Hirngebiet, was in sehr viele Prozesse involviert ist. Es gibt sowohl viele eher kognitive Prozesse, also Denkprozesse, aber natürlich auch viele emotionale Prozesse. Dazu gehört Empathieerleben, aber auch das Erleben eines Geschehens aus der Ich-Perspektive, Selbstbezug, Emotionalität, also es ist wirklich ein sehr mächtiges Organ, so kann man es nennen. Und jetzt geht es darum, zu untersuchen, wie spezifisch ist dieses Areal für bestimmte Funktionen."

    
Als Silvia Oddo die Erinnerungen von 16-Jährigen mit denen von 20- bis 21-Jährigen verglich, fand sie für dieses Areal bedeutsame Unterschiede. Bei den 20- bis 21-Jährigen war das mittlere Stirnhirn sehr stark aktiv, wenn es sich um persönliche Erinnerungen des letzten Lebensjahres handelte. Dabei hatte es sich offenbar auf autobiographisches Erinnern spezialisiert, denn beim Abruf von Sachwissen spielte es kaum eine Rolle. Ichbezogenes und sachliches Gedächtnis waren also klar voneinander getrennt. Oddo:

    "Wir erklären das damit, dass die eigene Biografie gerade des letzten Lebensjahres für unsere 20-Jährigen eine sehr sehr bedeutsame Rolle hat, deshalb diese Erinnerungen besonders emotional sind und deshalb eben eine sehr emotionale Verarbeitung stattfindet."

    Die 20- bis 21-Jährigen hatten gerade den Übergang von der Schule zur Universität und die Ablösung vom Elternhaus hinter sich gebracht, also schon eine stabile Ich-Identität ausgebildet. Dementsprechend stark und spezifisch reagierte ihr medialer präfrontaler Cortex auf diese aufregende Phase der Identitätsbildung. Anders bei den 16-Jährigen, die erst noch dabei waren, eine eigene Identität zu entwickeln. Hier war die Aktivität der mittleren Stirnhirnregion bei Erinnerungen an das letzte Lebensjahr nicht so intensiv. Vor allem aber war die Region auch beteiligt, wenn Sachwissen abgerufen wurde. Persönliches und sachliches Gedächtnis sind demnach bei 16jährigen noch nicht so klar voneinander geschieden. Oddo:

    "Mit 16 beginnt man sich auch mit politischem Wissen auseinanderzusetzen und mit dem Weltgeschehen und nimmt das auch zum ersten Mal bewusst wahr, dass das auch zur eigenen Persönlichkeit gehört, sich mit Weltwissen auseinanderzusetzen. Und wenn man dazu parallel den Identitätsfindungsprozess sieht auf der autobiografischen Seite, dann scheint es logisch zu sein, dass man eben die emotionalere Struktur erst im Laufe der Zeit entwickelt und dass sich deshalb beide Gedächtnissysteme noch nicht so deutlich unterscheiden."

    Ein seiner selbst bewusstes, autonomes Ich, so legt die Studie von Silvia Oddo nahe, bildet sich also in zwei Schritten aus. Während der Pubertät entwickeln sich persönliche Erinnerungen und sachliches Wissen im Gedächtnissystem noch unter einem gemeinsamen Dach. Denn wer autonom werden will, macht persönliche Erfahrungen mit anderen Menschen und will gleichzeitig auch die Welt erkennen und erklären. Ist beides im Verlauf der Pubertät gut gelungen, dann werden persönliche Erinnerungen und Sachwissen im Gehirn voneinander getrennt. Das persönliche Ich hat dann sozusagen seinen eigenen Raum im autobiografischen Gedächtnis gefunden, in dem es sich weiterentwickeln kann. Das Sachwissen dagegen gehört eher zum Bereich der Außenwelt, über die das Ich nachdenkt und von der es etwas weiß. Heißt das, dass das Ich erst nach der Pubertät reif wird? Silvia Oddo:

    "Ich würde es nicht per se als unreif bezeichnen, ich würde einfach sagen, dass sich innerhalb dieser Phase von der Adoleszenz bis zum jungen Erwachsenen Alter bestimmte Prozesse verstärken."

    Auf jeden Fall wird der Selbstbezug in der Pubertät immer stärker, das Selbstbild prägt sich aus und wird gefühlsmäßig aufgeladen. Und wie steht es mit der Beziehung zu den anderen, mit den sozialen Fähigkeiten?

    Hannah:

    "Zum Beispiel wenn ich aggressiv darauf bin, weil ein Freund von mir nicht raus darf, weil seine Mutter meint, dass es regnet, und ich das total unlogisch finde und meine Mutter meint, haah, du darfst dich nicht in die Erziehung und in dieses Mutter-Kind-Verhältnis einmischen, er ist total hin- und hergerissen zwischen seiner Mutter und seinen Freunden und dann wird so gebrüllt, dass ich danach eine supertiefe Stimme habe und es eigentlich total unnötig war."

    Hineinversetzen in die Perspektive eines anderen Menschen.Verstehen, warum er so denkt und handelt und nicht anders. Akzeptieren, dass es so ist, auch wenn man eine ganz andere Meinung hat. Warum ist das in der Pubertät so schwer? Hannah:

    "Weil sie wieder komische Argumente hatte... Ja, weil sie nicht versucht mich nachzuvollziehen."

    Die Neurowissenschaftlerin Sarah-Jayne Blakemore vom University College London untersucht seit mehreren Jahren, wie sich soziale Fähigkeiten im Gehirn Pubertierender entwickeln. Vor allem interessiert sie, wie Pubertierende "mentalisieren", inwieweit sie also in der Lage sind, sich in den, Geist, das Wollen und Denken anderer Personen hineinzuversetzen. Für diese Fähigkeiten sind im Gehirn mehrere Areale zuständig. Zu ihnen gehört auch der mediale präfrontale Cortex, der schon bei der Ausbildung des persönlichen Gedächtnisses eine wichtige Rolle spielt.

    "Alle bisherigen Studien haben gezeigt, dass der mediale präfrontale Cortex bei Jugendlichen weniger aktiv ist als bei Erwachsenen, wenn sie sich in andere Menschen hineinversetzen. Sechs oder sieben Studien aus verschiedenen Laboratorien kommen inzwischen zum gleichen Resultat, obwohl sie verschiedene Stimuli verwenden, um das zu testen."

    So eindeutig der Befund scheint, so unklar ist aber die Interpretation. Blakemore:

    "Man kann das auf unterschiedliche Art und Weise erklären. Die eine Möglichkeit ist, dass Jugendliche und Erwachsenen unterschiedliche Strategien verwenden, um solche Mentalisierungsaufgaben zu lösen. Es könnte zum Beispiel einfach so sein, dass Erwachsene automatisch dazu in der Lage sind, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Daher müssen die Mentalisierungsareale in ihrem Gehirn nicht so stark aktiv werden wie bei den unerfahrenen Jugendlichen. Die andere Möglichkeit wäre, dass es die Veränderungen beim Umbau des pubertierenden Gehirns sind, die in diesen Arealen bei Jugendlichen eine erhöhte Aktivität erforderlich machen."

    Ist es die geringere Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, die das Gehirn Pubertierender mehr beansprucht? Müssen sie daher einfach angestrengter nachdenken, wenn sie andere verstehen wollen? Oder ist das neuronale Programm der Pubertät dafür verantwortlich, dass das jugendliche Gehirn bei solchen Aufgaben stärker arbeiten muss? Die Frage ist genauso wenig geklärt wie die Frage, ob Jugendliche tatsächlich größere Probleme haben, soziale Situationen zu bewältigen. Sarah-Jayne Blakemore untersuchte zum Beispiel, wie gut Jugendliche und Erwachsene auf Bildern erkennen könne, ob jemand empört ist oder Schuldgefühle hat.

    "Wir konnten keine Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen finden, soziale Emotionen wie Schuld oder Empörung zu erkennen.Wir fanden nur Unterschiede auf der neuronalen Ebene. Man kann also annehmen, dass Erwachsene andere Techniken und Strategien anwenden, um die gleichen Aufgaben zu lösen, aber die Jugendlichen waren nicht schlechter. Sie nutzten nur andere Teile ihres Gehirns dazu."

    Auf die aktuelle Frage, ob die Neurowissenschaften über den Blick ins Gehirn tatsächlich die Pubertät vollständig erklären können, hat Sarah-Jayne Blakemore daher eine ziemlich komplizierte und differenzierte Antwort.

    "Es verändert sich wohl sehr viel während der Pubertät, aber diese Veränderungen sind sehr komplex. Es ist eben nicht nur die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen oder Handlungsentscheidungen zu treffen.Vielmehr macht man solche Dinge gleichzeitig. Im Alltag führen Sie ja nicht nur eine Handlung aus oder versetzen sich nur in Andere oder verarbeiten nur Gefühle: vielmehr kombinieren sie das alles miteinander. Aber im Unterschied zum wirklichen Leben können neurowissenschaftliche Experimente im Labor solche Fähigkeiten nur sehr isoliert voneinander untersuchen. Daher sind die Laborresultate oft sehr verschieden vom realen Leben."

    Die Hirnforschung kann daher schon aus methodischen Gründen kein neuronales Programm beschreiben, aus dem sich pubertierendes Verhalten eindeutig erklären lässt. Sie macht aber klar, dass es tatsächlich besondere Entwicklungen im pubertierenden Gehirn gibt, die zumindest Bausteine für solche Erklärungen liefern. Ob und in welchem Ausmaß einzelne Pubertierende dann wirklich anders handeln und denken, inwieweit sie aggressiverer und triebgesteuerter, enthemmter und egoistischer sind als Erwachsene, das hängt eben auch von der sozialen Umwelt ab. Denn das Gehirn baut seine Nervennetze ja gerade in dieser Phase besonders stark in Wechselbeziehung mit der Umwelt um. Eltern, Erzieher und Jugendliche sind daher nicht einfach nur einem biologischen Programm im Gehirn ausgeliefert. Sie bauen vielmehr aktiv an diesem Programm mit. Die Hirnforscherin Sarah-Jayne Blakemore hat einige Vorschläge für dieses Bildungsprojekt.

    "Die meisten Schulen konzentrieren sich darauf, Wissen zu lehren, neigen aber nicht dazu, andere wichtige Fähigkeiten zu vermitteln: Wie verstehe ich andere Menschen, wie kann ich in Gruppen zusammenarbeiten, wie kann ich anderen Menschen zuhören, meinen Tagesablauf planen, Entscheidungen fällen oder bestimmte Entscheidungen vermeiden, die eigentlich kein so gute Idee wären. Alle diese Fähigkeiten entwickeln sich erst während der Pubertät. Es könnte also sehr nützlich sein, solche Fähigkeiten vermehrt zu unterrichten."

    Nico:

    "Wann die Pubertät anfängt, finde ich überhaupt nicht klar zu sagen, aber Pubertät hört glaube ich dann auf, wenn man Verantwortung für sich selbst, für andere übernehmen kann, wenn man Entscheidungen treffen kann, ohne dabei alles zu bereuen, und das noch während man die Entscheidung trifft."

    Hannah:

    "Ich finde, es hört nie auf, also mit 18 ist man gesetzlich erwachsen, gesetzlich schon. Ich glaube aber nicht, dass man dann geistig schon erwachsen ist, also falsch gedacht – Nico natürlich schon – aber ich glaub einfach, dass in jedem ein Kind steckt und jeder manchmal keine Entscheidung treffen kann und bei manchem verschalten sich vielleicht die Sachen im Gehirn gar nicht."