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Flecken auf dem Kleid

Dreimal in ihrem Leben versuchte sich Virginia Woolf über ihre Biografie klar zu werden. Heraus kamen Aufzeichnungen, die wie ein Prisma ihre Kindheit und Jugend und die viktorianische Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts spiegeln. Nun liegen ihre "Autobiographischen Skizzen" in neuer Übersetzung vor.

Von Wolfram Schütte | 07.08.2012
    "Autobiographische Skizzen” - mehr sind es nicht, die Virginia Woolf von sich hinterlassen hat. Die deutschen Leser der von Klaus Reichert herausgegebenen Werkausgabe können sie nun in der Übersetzung von Brigitte Walitzek als jüngsten Band der verdienstvollen und sorgfältigen Woolf-Edition des S.Fischer-Verlags kennenlernen. Die englische Autorin, von der - wie Reichert in seiner Vorbemerkung berichtet - "annähernd 4000 Briefe” und "fünf dicke Tagebuchbände” überliefert sind, hat damit nahezu erschöpfend ihr äußerliches Leben dokumentiert, das sie seit 1912 an der Seite Ihres Mannes Leonard Woolf zumeist in London geführt hat. Jedoch enthält dieses autobiografische Material so gut wie nichts Intimes von der immer wieder gesundheitlich prekären Existenz der Autorin, die während ihres letzten Wahnsinnsschubs sich 1941 das Leben nahm. Dreimal im Verlauf ihres Lebens hat die 1882 als Tochter des Schriftstellers Sir Leslie Stephen in London geborene Autorin versucht, sich über ihre Biographie klar zu werden, sofern sie nicht die autobiographischen Stoffe in ihren Fiktionen, wie zum Beispiel in dem Roman "To the Lighthouse”, zu deren Unter- und Ausfütterung verwendet und sie damit aufgezehrt hatte.

    Zum ersten Mal 1907, als sie noch Virginia Stephen hieß und noch nicht die große Autorin war, arbeitet sie an ihren vierteiligen, Fragment gebliebenen "Reminiszenzen". Dann etwa 1920 sprach sie in drei Vorträgen vor einem privaten Kreis von Freunden und Bekannten davon, was es mit den Anfängen des intellektuellen Bohème-Zirkels der "Blomsbury”-Gruppe auf sich hatte, zu deren bekanntesten Mitgliedern Virginia, der Wirtschaftstheoretiker John Maynard Keynes und der Essayist Lytton Strachey gehörten. Den dritten autobiographischen Versuch unternahm Virginia Woolf mit ihrer "Skizze der Vergangenheit” 1939. Dieses späte "life writing” war ihre ausführlichste Selbstvergewisserung, blieb aber gleichwohl fragmentarisch und war erkennbar nur als Vorstufe einer möglichen späteren Ausarbeitung gedacht. Darauf deutet die Datierung der einzelnen Passagen ebenso hin wie die Erwähnung ihrer jeweiligen Entstehensumstände. Überhaupt waren Virginia Woolfs "Skizzen der Vergangenheit” von ihr als reflektierende Freigänge in ihre Jugend gedacht, mit denen sie die selbstgesetzte literarische Fron unterbrechen konnte, die in der Ausarbeitung der Biographie des Malers und Kunstkritikers Roger Fry bestand.

    Aus unterschiedlichen Gründen sind diese autobiografischen Versuche auch literarisch interessant. So hat die noch gar nicht als Schriftstellerin ausgereifte Virginia Stephen bei ihrem ersten Versuch die Form eines Briefes gewählt, in dem sie dem noch ungeborenen Sohn ihrer geliebten Schwester, der gerade verheirateten Vanessa Bell, dessen Mutter und Großmutter bewundernd und gewissermaßen monumental vor Augen stellt. Die drei nun schon ironisch brillierenden Vorträge wagen sich zum einen an eine beschreibende Rekonstruktion der Lebensumstände und Wohnungsverhältnisse der Familie und der Eigenarten des von den meist schwulen männlichen Cambridge-Studenten bestimmten Bloomsbury-Zirkels. Anfangs waren diese hochgebildeten, nonkonformistischen Intellektuellen noch puritanisch-viktorianisch (wie Virginias Vater), bis eines Tages Lytton Strachey über einen Flecken auf Virginias Kleid mutmaßte, er könnte von "Samen” herrühren. Diese schockierende Bemerkung hatte aber zur Folge, dass die "Bloomsberries" von da an unter sich genauso rückhaltlos über Sexualität sprachen wie über alle anderen von ihnen analysierten Themen der Kunst und Gesellschaft ihrer prüden Zeit.

    Im Mittelpunkt von Virginia Woolfs letzten Autobiografika aber stehen ihr Vater und ihre Mutter Julia, die drei Kinder aus ihrer ersten Ehe in die Ehe mit Leslie Stephen brachte. Ihr erster Mann war früh gestorben, wie auch sie wiederum früh sterben sollte - nämlich als Virginia gerade einmal 13 Jahre alt war. Der Vater Leslie Stephen, dessen wenig sympathisches Porträt eines cholerischen männlichen Quälgeists Virginia mit scharfem analytischen Blick zeichnet, wurde nach dem unerwarteten Tod seiner Frau von deren in die Ehe mitgebrachten Tochter Stella versorgt. Aber Stella flüchtete nach zwei Jahren aus ihrer qualvollen Rolle als Hausmutter der Stephens-Familie in eine Ehe, die sie jedoch nur drei Monate genießen konnte, bevor auch sie überraschend starb, sodass ihre ältere Schwester bis zum Tod des Vaters 1904 den Haushalt führte. Die vielen Frauentode in dieser viktorianischen Patchwork-Familie, sind ebenso rätselhaft wie verwirrend. Virginia Woolf registriert sie lakonisch und memoriert Familien-Szenen und intensive "Augenblicke des Daseins", in denen sich ihre Kindheit und Jugend und die viktorianische Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts prismatisch spiegeln. "Die Straßen waren voller Pferde”, erinnert sie einmal das Verkehrschaos im London ihrer Jugend. Wie weit diese Zeit doch schon von uns entfernt ist!


    Virginia Woolf: ”Augenblicke des Daseins”
    Autobiographische Skizzen.
    Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.
    S. Fischer, Frankfurt am Main 2012, 253 Seiten, 26 Euro