Mittwoch, 17. April 2024

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Florentinische Musik des Trecento
Enträtselte Pergamentsammlung

Das San Lorenzo Palimpsest ist eine Sammlung aus der Renaissance, deren Pergamentseiten erst vor kurzem dank komplizierter Fototechnik wieder lesbar gemacht werden konnten. Das Ensemble La Morra präsentiert erstmals daraus eine Auswahl dieser artifiziellen weltlichen Musik mit sensiblem Stilempfinden.

Am Mikrofon: Rainer Baumgärtner | 01.01.2019
    Die 7 Mitglieder des Schweizer Ensembles La Morra, zwei von ihnen halten eine Ausgabe des neu veröffentlichten San Lorenzo Palimpsests in der Hand
    Das Schweizer Ensemble La Morra mit der Neuausgabe des San Lorenzo Palimpsests (La Morra)
    Wenn Musiker ein CD-Programm zusammenstellen, verwenden sie meist gedruckte Notenausgaben. Manchmal editieren sie auch Originalmanuskripte, um unbekannte Werke vorzustellen. Bevor es zur neuen CD des Baseler Alte-Musik-Ensembles La Morra kam, wurde jedoch wahre Detektivarbeit geleistet. Mit Hilfe von Hamburger Wissenschaftlern und moderner, sehr aufwendiger Technik rekonstruierte man Werke aus dem Florenz der Frührenaissance. Das von Corina Marti und Michał Gondko geleitete Ensemble hat sie auf der beim Label Ramée erschienenen CD "Splendor da ciel" erstmals aufgenommen.
    Musik: Piero Mazzuoli, Lasso dolente
    Diese Ballata stammt von dem florentinischen Organisten Piero Mazzuoli, entstanden ist sie um das Jahr 1400 herum. Man nennt diese Epoche der italienischen Kulturgeschichte Trecento und das wichtigste Zentrum für die moderne Architektur, Malerei, Dichtkunst und Musik der Zeit war Florenz.
    Die kulturelle Entfaltung zeigt den Stolz der Bürger auf ihre Stadt, in der Poeten wie Petrarca und Boccaccio die Textvorlagen für neue Arten von weltlicher Musik lieferten. Die wichtigsten musikalisch-poetischen Formen waren dabei Ballata, Madrigal und Caccia – nicht weniger als 650 Lieder dieser Art sind aus dem Trecento überliefert.
    Prachthandschrift mit Leerstellen
    Mehr als die Hälfte dieser Stücke findet sich in einer besonderen Prachthandschrift, dem Codex Squarcialupi. In ihm wurden systematisch die Werke von zwölf Komponisten zusammengetragen. Mit Gold akzentuierte Zierrahmen fassen die Lieder ein, wobei große Initialen und Porträt-Darstellungen des jeweiligen Komponisten die Abschnitte einleiten.
    Die für zwei weitere Komponisten vorgesehenen Seiten blieben, abgesehen von den Verzierungen, allerdings leer, und zwar die für Giovanni Mazzuoli sowie Paolo da Firenze – obwohl der wohl sogar beim Zusammenstellen des Codex beteiligt war. Vom Benediktinermönch Paolo sind allerdings eine ganze Reihe von Stücken aus anderen Quellen überliefert, so auch die Ballata "Uom ch’osa di veder".
    Musik: Paolo da Firenze, Uom ch’osa di veder
    Das florentinische Repertoire von polyphonen Werken des Trecento ist hohe, hochverfeinerte Kunst. Klar, dass Musiker wie Wissenschaftler von heute über jedes neu entdeckte Werk glücklich sind. Dass auf einen Schlag gleich Dutzende bislang unbekannte Kompositionen für zwei oder drei Stimmen hinzukommen, ist eigentlich unmöglich.
    Doch dieser Fall ist nun eingetreten, dank eines Fundes in der Basilika San Lorenzo, der ehemaligen Pfarrkirche der Medici. Dort wird eine dicke Pergamenthandschrift aufbewahrt, in der aufgeführt ist, welche Häuser von der Leitung der Kirche im 15.Jahrhundert gekauft und vermietet wurden. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn es handelt sich um ein so genanntes Palimpsest. Das bedeutet, dass die originale Beschriftung der Blätter vor der Auflistung der Immobilien weggekratzt oder abgewaschen worden ist. Und ursprünglich waren im San-Lorenzo-Palimpsest Musikstücke aufgezeichnet gewesen! Dies kann man mit bloßem Auge erkennen, ohne dass es möglich wäre, Details wahrzunehmen.
    Falschfarbenbild einer Seite aus dem San Lorenzo Palimpsest mit der wieder sichtbar gemachten Notation
    Ausschnitt aus dem Stück "Splendor Da Ciel" als Falschfarbenbild mit der wieder sichtbar gemachten Notation (CSMC (San Lorenzo Palimpsest))
    Geheimnisse eines Palimpsests
    Hier kommt nun der Sonderforschungsbereich 950 der Universität Hamburg ins Spiel, an dem man sich mit internationalen Manuskriptkulturen befasst. Angeführt vom Stipendiaten Andreas Janke, reisten Vertreter des Bereiches vor fünf Jahren mit mehreren Koffern voller Spezialausrüstung nach Florenz. Mit einer hochauflösenden Multispektralkamera fotografierten sie zwei Wochen lang den gesamten Kodex. Die Aufnahme verschiedener Lichtspektren ermöglichte es, die Seiten nach Bearbeitung mit einem Computerprogramm so darzustellen, dass auch die ursprünglichen Noten identifizierbar wurden.
    Zu den Stücken des Palimpsests, die in keiner anderen Quelle existieren, zählt das anonym und ohne Text aufgezeichnete "Douls m’est amer". Corina Marti und Michał Gondko führen es auf der neuen CD mit einem Clavicimbalum, einem frühen Cembalo, sowie mit Laute auf.
    Musik: Anonymus, Douls m’est amer
    Am Hamburger Sonderforschungsbereich stellte man die Pergamentseiten des San-Lorenzo-Palimpsests als so genannte Falschfarbenbilder dar. Dabei leuchten die originale und die zweite Schreibschicht in verschiedenen Farben, so dass man beide lesen kann. Doch trotz des enormen Aufwandes sind nicht alle Noten genau identifizierbar, so dass die Stücke sorgsam editiert werden müssen.
    Ausbeute eines halben Jahrhunderts
    Die wiedergewonnene Sammlung umfasst mehr als 200 Kompositionen, annähernd die Hälfte davon ist nirgendwo sonst nachweisbar. Sie ist das Werk eines einzigen Schreibers, der dafür Stücke aus einem halben Jahrhundert zusammentrug und sowohl italienische als auch französische Werke berücksichtigte.
    Ein besonders glücklicher Umstand besteht darin, dass Stücke des florentinischen Organisten Giovanni Mazzuoli und seines Sohnes Piero darunter sind. Denn von diesen beiden geachteten Musikern der Stadt waren bislang überhaupt keine Kompositionen bekannt. (Im Squarcialupi Codex waren die für Giovanni vorgesehenen Seiten ja leer geblieben!)
    Eine Ballata des älteren Mazzuoli hat der CD auch den Titel gegeben: "Splendor da ciel – Glanz aus dem Himmel hat auf der Erde die liebliche Blume Lisa hervorgebracht, von der mein Herz festgehalten wird".
    Musik: Giovanni Mazzuoli, Splendor da ciel
    Die Musiker des Ensembles La Morra, vier Sänger und drei Instrumentalisten, haben insgesamt 17 Stücke aus dem San-Lorenzo-Palimpsest aufgenommen, sieben davon sind Unikate. Dabei hat die Gruppe diverse Besetzungsmöglichkeiten ausprobiert, so wie es auch in der frühen Renaissance gewesen sein könnte, vom rein vokalen Vortrag über unterschiedliche Varianten der Begleitung bis zur instrumentalen Realisation.
    Hypnotische Wirkung
    Doch ganz gleich, in welcher Zusammensetzung sie sich gerade hören lassen: Es gelingt den Beteiligten stets, einen musikalischen Fluss zu erzeugen, selbst wenn raffinierte Rhythmen oder kunstvoll verwobene Stimmen die Aufmerksamkeit schärfen. Ihre ganze Schönheit vermittelt diese Musik beim entspannten, die Zeit vergessenden Lauschen. Sie fordert, dass man sich auf sie einlässt – und wenn man dies tut, vermag sie eine schier hypnotische Wirkung zu entfalten.
    Die in einer kleinen Kirche im Schweizer Kanton Aargau aufgenommene CD überzeugt mit einem glasklaren, vollen Klang mit minimaler Raumwirkung. Das Begleitheft enthält einen instruktiven Aufsatz und diverse Abbildungen und Fotos, die es ermöglichen, die Arbeit am San-Lorenzo-Palimpsest nachzuvollziehen.
    Musik: Paolo da Firenze, Amor mi stringe assai
    Splendor Da Ciel
    Wiederentdeckte Musik aus einem Florentiner Manuskript des Trecento
    Künstler: La Morra, Corina Marti, Michał Gondko
    Label: Ramee, CD, DDD, 2017
    LC-13819//4250128518031